Beten für die Streichung des 175ers?

■ Die Abschaffung des Schwulenparagraphen in greifbarer Nähe/ »Jetzt oder nie« — Berliner Aktionstage am Freitag und Samstag/ Bezirk Tiergarten zierte sich bei Genehmigung — Limbach half

Schöneberg. Gratiskondome werden auf der Abschlußkundgebung der Demonstration gegen den Paragraphen 175 am Samstag wahrscheinlich nicht vom Himmel regnen. Statt dessen sollen diesmal 5.000 Gummiluftballons mit einer unmißverständlichen Botschaft vor dem Brandenburger Tor in die Berliner Luft steigen: »Paragraph 175: Hau weg den Scheiß!«

Viele Schwule würden vor Wut am liebsten gleich mit in die Luft gehen. Denn noch immer verurteilen die Gerichte über 18jährige, die »homosexuelle Handlungen an unter 18jährigen vornehmen«, mit bis zu fünf Jahren Haft. Im vergangenen Jahr bundesweit 200, davon die meisten in Bayern und immerhin keinen in Berlin. Bei heterosexuellen Beziehungen liegt das Schutzalter lediglich bei 16 Jahren. Das Sondergesetz gegen Schwule hat nicht nur juristische Folgen, es behindert, so die Kritik, Hilfsorganisationen in ihrer Aufklärungsarbeit gegen Aids, bestärkt die Vorurteile der »Normalbevölkerung« gegenüber den »warmen 175ern«, fördert die Bereitschaft zu Gewalttaten gegen Schwule und belastet unnötig heranwachsende schwule Jugendliche, für die eine normale schwule Entwicklung oft unmöglich ist.

Daß bei einer Abschaffung des Spezialstrafrechts gegen Schwule nicht die sexuelle Anarchie ausbricht, bewies vor zwei Jahren ausgerechnet die SED. Sie strich damals in der DDR den Paragraphen 151, die Ostversion des bundesdeutschen 175ers. Die »Homosexualisierungswelle« blieb aus. Doch im vereinigten Deutschland gilt heutzutage für den 175er wie für den Abtreibungsparagraphen 218 das Tatortprinzip. Doch der Gesetzgeber ist wegen des verfassungsmäßigen Gleichheitsgrundsatzes nun allerdings gezwungen, sich über kurz oder lang mit dem 175er zu befassen. »Jetzt oder nie — Ersatzlose Streichung des Paragraphen 175!« verkündeten deshalb bundesweit über 30 Gruppen, von der Aids-Hilfe bis zur Schwulendisko, die am kommenden Freitag und Samstag mit einer Reihe von Aktionen gegen den 175er mobil machen. Am Samstag startet als Höhepunkt der Aktionstage eine Anti-175er-Demo, deren Route vom Alexanderplatz bis zum Brandenburger Tor führen soll.

Eine schwule Abschlußkundgebung — das war ausgerechnet für das Bezirksamt Tiergarten zunächst ein Ding der Unmöglichkeit. Eine Aktion »Beten für den Frieden« würde man da schon eher genehmigen, so die Sachbearbeiterin. Grünes Licht aus dem Bezirk mit Berlins größter »cruising area« gab es dann erst, als sich Justizsenatorin Limbach (SPD) persönlich einschaltete. Dabei hatten die Organisatoren bereits eine Alternativaktion geplant: »Beten für die Streichung des 175ers«. Marc Fest

Die Anti-175er-Demo startet Sa., 27.10., 12 Uhr an der Weltzeituhr auf dem Alex. Infos zu den anderen Aktionen bei »Mann-o-Meter«, Motzstraße 5, Berlin 62, Tel.: 2168008. Eine Talkshow des Berliner Schwulenverbandes im Rahmen der Aktionstage findet unter dem Motto »Paragraph 175 bald gesamtdeutsch?« Fr., 26.10., 20 Uhr im BKA-Zelt auf dem Kreuzberg statt.