„Schlicht und ergreifend ein Fall von Lynchjustiz“

■ Plädoyers im Arnsberger Prozeß/ Staatsanwalt fordert fünf- und sechsjährige Haftstrafen/ Anklage schließt sich umstrittenem Gutachten an/ Verteidigung sieht verminderte Schuldfähigkeit der Angeklagten

Arnsberg (taz) — Geht es nach dem Staatsanwalt, soll Manuela Bolz als Mittäterin für fünf Jahre und ihr Mann Marco, der ihren Vater, Ulrich Tröger im Januar vor dem Gefängnis in Werl erschossen hatte, für sechs Jahre ins Gefängnis. Für Waltraud Tröger, Manuelas Mutter, beantragte der Staatsanwalt ebenfalls sechs Jahre wegen Mittäterschaft. Damit würde die Frau für ihre Teilnahme an familiären Absprachen vor der Tat und an der Fahrt nach Werl zwecks — so der Staatsanwalt — „psychischer Unterstützung“ genauso hart bestraft wie der getötete Ulrich Tröger für die jahrelangen Vergewaltigungen seiner Tochter Manuela. Tröger hatte dafür sechs Jahre Haft im Werler Gefängnis abgesessen, bevor er am Tag seiner Entlassung von Marco Bolz erschossen wurde.

Die Schüsse, so Staatsanwalt Schulze-Bentrop, hätten die Angeklagten „von langer Hand“ vorbereitet. Alle hätten den Tod Trögers gewollt. Zur Frage der Schuldfähigkeit folgte Schulze-Bentrop ohne Abstriche dem vielkritisierten Gutachter Michael Becker. Ihm zufolge sind beide Frauen voll schuldfähig, weshalb der Saatsanwalt ihnen mildernde Umstände nicht zubilligen wollte.

Wie schon der Gutachter, zeigte sich auch der Staatsanwalt unfähig, die Tat als späte Folge des grausamen sexuellen Mißbrauchs zu beurteilen. Vielmehr machte er noch in seinem Plädoyer Waltraud Tröger dafür verantwortlich, „zum Inzest geschwiegen“ zu haben, statt ihre Tochter Manuela vor dem gewalttätigen Vater — von dem sie im übrigen selbst gequält wurde — zu schützen. Sie habe sich offenbar mit ihrem Leben eingerichtet und von allen Angeklagten am wenigsten Grund gehabt, Tröger zu töten. „Schlicht und ergreifend“, folgert der Staatsanwalt zusammenfassend, „haben wir es hier mit einem Fall von Lynchjustiz zu tun“.

Es blieb den Verteidigern vorbehalten, diesem kurzen, menschlich und argumentativ keineswegs überzeugenden Plädoyer der Anklage eine differenziertere Würdigung des Verfahrens sowie der Tat gegenüberzustellen. „Lynchjustiz“, betonten sie, war die Tat keinesfalls. Den Angeklagten sei es nie darum gegangen, Tröger für seine Gewaltakte zu bestrafen, sondern sich vor ihm zu schützen. Anders als der Staatsanwalt, der davon ausging, Tröger habe nach der Haft sein Leben verändern wollen, konnten Manuela und Marco Bolz, so der Rechtsanwalt des Ehemannes, Volker Cramer, davon nicht ausgehen. Während der Haft habe sich Tröger weder mit dem Mißbrauch auseinandergesetzt noch von sich aus seiner Tochter erklärt, er werde sie in Zukunft in Ruhe lassen. Vielmehr sei Ulrich Tröger „eine dauernde Gefahr“ für die Familie gewesen und habe noch aus der Haft gedroht. Verärgert zeigten sich alle Anwälte über den Gutachter Becker, der vor Gericht „einen Grabenkampf mit anderen Psychologen, aber nicht ein Gutachten über Manuela Bolz und Waltraut Tröger geliefert habe.

Cramer reklamierte für Marco Bolz, ebenso wie sein Kollege Franz Teuber für Michaela Bolz verminderte Schuldfähigkeit und beantragte für den Fall, daß das Gericht dem nicht folgen wolle, die Bestellung eines Tiefenpsychologen. Dieser soll den Zusammenhang zwischen dem sexuellen Mißbrauch an Manuela Bolz und den Umständen der Tat klären. Mehrfach betonten alle Rechtsanwälte, die Angst von Manuela und Marco Bolz vor Trögers Rückkehr sei real gewesen, habe ihr ganzes Leben und ihre Beziehung zueinander bestimmt. Marco Bolz' Rechtsanwalt beantragte einen Freispruch nach dem Paragraphen 35 des Strafgesetzbuchs, nach dem „ohne Schuld handelt“, wer bei einer nicht anders abwendbaren Gefahr für sein Leben oder das seiner Angehörigen eine rechtswidrige Tat begeht. Falls das Gericht nicht freisprechen könne, dürfe, so sein Anwalt, Marco Bolz nur eine milde Strafe — er nannte zwei Jahre — bekommen, die zudem auf Bewährung ausgesetzt werden solle. Ein Strafmaß für Manuela Bolz nannte die Verteidigung nicht, sie solle ebenfalls freigesprochen oder nur mild bestraft werden, damit sie ihre Kinder möglichst bald wieder versorgen kann. Für Waltraud Tröger forderte ihr Anwalt, Ulrich Moderson, Freispruch, da ihr vor Gericht eine konkrete Tatbeteiligung oder Beihilfe zum Totschlag nicht habe nachgewiesen werden können.

Das Urteil, das am Freitag gesprochen wird, wird sich nun danach richten, ob das Gericht willens und in der Lage ist, den sexuellen Mißbrauch und seine Folgen angemessen zu werten. B. Markmeyer