Kant, Kaliningrad, Perestroika

Erster Internationaler Kant-Kongreß in der „terra incognita“  ■ Von Richard Laufner

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Mündigkeit ist das Vermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“

Mit diesen Worten begann Immanuel Kant in „Königsberg in Preußen, dem 30. Sept. 1784“ seinen berühmten Aufsatz Was ist Aufklärung?. Wenn sich Mitte Oktober 1990 knapp hundert Philosophen — darunter auch deutsche Teilnehmer — in der mittlerweile nach einem Weggefährten Lenins und Stalins in Kaliningrad umgetauften Stadt treffen, um einen Philosophie-Kongreß zum berühmtesten Repräsentanten der Stadt abzuhalten, stellt sich die Frage: Wer sollte die Worte des in Königsberg geborenen und gestorbenen Philosophen (1724 bis 1804) wie interpretieren und auf sich beziehen?

Die Vorgeschichte: Anlaß des Kongresses vom 9. bis 12. Oktober war der 200. Jahrestag des Erscheinens der Kritik der Urteilskraft, in der Kant über Ästhetik und die Teleologie (Zielgerichtetheit) der Natur reflektierte. Absolutes Novum: die Teilnahne einer Gruppe deutschsprachiger Kant-Forscher in der seit dem Zweiten Weltkrieg zum militärsishen Sperrgebiet erklärten und damit zur „terra incognita“ gewordenen Zone, in denen Ausländer keinen Zutritt haben.

Nach zwei Bombennächten im August 1944 wurde die von den Nazis zur „Festung“ erklärte Stadt mit ihren weitverzweigten unterirdischen Militäreinrichtungen nach einem dreitägigen Sturm im April 1945 von der Roten Armee eingenommen. In der fast völlig zerstörten und in bekannter Betonbauweise neu aufgebauten Innenstadt erinnert die gotische Backsteinruine des Doms auf der Pregel-Insel an die einstige Geschichte. Die sowjetischen Militärs und der KGB wehren sich wegen der zahlreichen Militäreinrichtungen heute noch erbittert gegen jegliche Öffnung der zur Sowjetrepublik Rußland gehörenden Region Kaliningradskaja Oblast.

Ist es die Gorbatschowsche Politik der Perestroika oder sind es ähnliche Kräfte wie in den benachbarten baltischen Republiken — in Kaliningrad verstärkt sich der Wunsch nach Offenheit immer mehr. Im Juli dieses Jahres beschloß die Stadtverwaltung eine Öffnung für westliche Touristen, allerdings immer noch ohne Wirkung bei den verantwortlichen Militärs in Moskau. Die wenigen Besucher konnten bisher nur auf Einladung, mit dem für die Sowjetunion üblichen Visum und per Tagesreise von Riga in die knapp 400.000 Einwohner zählende Stadt gelangen.

Vor zwei Jahren stieß der damalige Vorstandsprecher der Deutschen Bank, F. Wilhelm Christians, mit seiner Idee eines europäischen Industrie- und Technologiezentrums nicht nur beim reformorientierten Bürgermeister Chromenko, sondern auch in Moskau auf interessierte Zuhörer. Im Sommer 1989 fuhr Marion Gräfin Dönhoff, geboren und aufgewachsen im zwanzig Kilometer entfernten Schloß Friedrichstein, zusammen mit ihrem Neffen und einer Kant-Statuette auf dem federnden 2CV-Rücksitz über Warschau, Brest und Vilna in die verbotene Stadt. Die viel kürzere Einfahrt vom Westen ist nicht möglich, weil die Grenze zum polnischen Süd-Ostpreußen absolut dicht ist.

Nun also der erste internationale Kant-Kongreß als weiteres Signal der Öffnung. Die ausländische Beteiligung konnte Philosophieprofessor Leonard Kalinnikov nach einigen Mühen durchsetzen. Vermutlich weil selbst das beste Hotel Kaliningrads „höchstens Abenteuertouristen und Nostalgikern“ zumutbar war, wie ein Gast spöttisch anmerkte, fand die Tagung eine knappe S-Bahnstunde entfernt im Kurort Swetlogorsk an der Bernsteinküste der samländischen Halbinsen statt.

Die aktuelle Bedeutung Kants erwies sich zumindest auf dem Kongreß selbst als schwer auslotbar. Da war zum einem die überwiegende Mehrheit der sowjetmarxistischen Philosophen um Akademiemitglied und Renommierphilosoph Teodor Iljitsch Oisermann, der Kant nach mittlerweile gängigem Muster in die Vorläufertradition des Marxismus- Leninismus eingemeinden wollte. Lenin hatte den Königsberger im berühmt-berüchtigten Werk Materialismus und Empiriokritizismus noch harsch als subjektiven Idealisten abgekanzelt. Oisermanns Vortrag endet in dem Ausruf: „Humanisten aller Länder, vereinigt euch!“

Solcherlei weltumschlingende Losung war dem Marburger Philosophieprofessor und Kant-Forscher Reinhard Brandt denn doch zu platt. Zum Erstaunen des eher auf Einmütigkeit bedachten Auditoriums warnte er vor solchen Schablonen, einer banalisierenden Aktualisierung und einer beliebigen Propaganda, die mal Marx, Hegel oder Kant auf ihre Fahnen schreibt. „Das ist kein Beitrag zur Kant-Forschung.“ Der Angegriffene wehrte sich sichtlich betroffen mit dem Hinweis, man solle doch keine Stubenwissenschaften betreiben.

In Vodka veritas

Im Kontrast zu den im engeren wissenschaftlichen Sinne wenig ergiebigen offiziellen Debatten standen die informellen Treffs abends. Wem die Vorträge zu langweilig oder nüchtern waren, konnte hier — animiert durch die überwältigende Herzlichkeit der russischen Philosophen-Kollegen — auf seine Kosten kommen. In Vodka Veritas.

Der wesentliche Erfolg in diesen anfangs regnerisch-trüben und später heiteren Herbsttagen war jedoch die Tatsache, daß es überhaupt zu einem ersten Treffen mit deutschsprachigen Kant-Forschern gekommen war. Fünf der insgesasmt acht ausländischen Gäste waren aus Marburg angereist, wo um die Jahrhundertwende die Neukantianer Paul Natorp und Hermann Cohen gelehrt hatten: Reinhard Brandt und Werner Stark als Gründer des „Kant-Archivs“ und Herausgeber von Kants Vorlesungsnachschriften; außerdem der Philosophieprofessor Burkhard Tuschling, der 1944 als sechsjähriger die Stadt mit seinen Eltern verlassen mußte, sowie Mitarbeiter Franz Hespe und der Slawist Michael Hagemeister. Der organisierte im Auftrag des Börsenvereins des deutschen Buchhandels eine Ausstellung aller deutschsprachigen Kant-Publikationen und hatte zehn Tage lang Zeit, ohne Sprachbarriere Land und Leute kennenzulernen — ein Meilenstein in der restriktiven Genehmigungspraxis sowjetischer Behörden.

Anfang des Jahres hatte Jurij Iwanow, Schriftsteller und prominenter Vorsitzender der Kaliningrader Abteilung des sowjetischen Kulturfonds, in der 'Izvestija‘ erklärt: Kalininingrad ist eine sowjetische Stadt und soll es auch bleiben. Aber es war falsch, die deutsche Vergangenheit und das deutsche Kulturerbe zu verdrängen: „Man möge uns ,entsiegeln‘ und unsere geheimnisvolle ,terra incognita‘ für alle öffnen, die bei uns Gast sein wollen.“

Doch Kant ist zur Zeit mehr als ein Door-Opener, eine zufällige Symbolfigur für die Öffnung. Vornehmlich bei Studenten und jüngeren Kongreßteilnehmern gibt es ein vitales Interesse an seiner Philosophie, daran, daß „Vernunft praktisch wird“. Gerade Kants Rechtslehre bietet hier Anknüpfungspunkte.

In der Sowjetunion ist zudem in den letzten Jahren mit dem gesellschaftlichen Umbruch eine lebhafte Ethik-Debatte entfacht worden, in der der im Gegensatz etwa zu Hegel und Schelling lange Zeit kaum rezipierte Philosoph Kant eine Rolle spielt. Einer der Wortführer in dieser Diskussion ist der beim Kongreß nicht anwesende Kant-Biograph Arsenij Gulyga, der für Kant und Dostojewski als neue moralische Leitfiguren plädiert. Der einst als formalistisch kritisierte „kategorische Imperativ“ — „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ — ist mittlerweile auch in der Sowjetunion ein gern zitierter Satz im dem Bestreben, jenseits des verschlissenen Vulgärmarxismus neue Leitlinien zu finden.

Das in den siebziger Jahren vitaler gewordene Interesse an Kant hat in Kaliningrad aber auch eigentümliche Züge angenommen. Eher ein Kuriositätenkabinett ist das „Kant-Museum“ in den Räumen der Alten Universität. Hier konnte Werner Stark auch keine Hinweise bekommen bei der Suche nach dem verschollenen Kant-Nachlaß aus Berlin und Königsberg, der 1944 in ein Depot nach Greifswald verlagert wurde, welches den Krieg schadlos überstand. „Es gibt dichte Hinweise, daß die Rote Armee sie mitgenommen hat und in irgendeinem Gebäude unzugänglich lagert.“ Doch ohne Initiativen und Kooperationen auf höchster Regierungsebene dürften die Bestände nicht auffindbar sein. Immerhin verspechen die Vorlesungsnachschriften, der handschriftliche Nachlaß mit Vor- und Nacharbeiten zu den Publikationen und Manuskripten mit autobiographischen Reflexionen erhebliche Aufschlüsse. Nicht zuletzt über die Person des Königsberger Gourmets und Junggesellen, der von den Biographen Karl Vorländer und Emil Arnoldt ganz in preußischem Sinne zu einer nach festen Regeln lebenden, schrulligen und ortsfesten Figur stilisiert wurde.

Kant, der ewige Deutsche?

Mag sein, daß die klischeehafte Ineinsetzung von Kant und Königsberg das „Kant-Museum“ zu seinem bisweilen ins Fetischhafte abgleitenden Präsentationen verleitete. Dieses Museum ist zum ideologischen Zentrum einer Bewegung geworden, die sich mit Enthusiasmus um das kulturelle Erbe Königsbergs bemüht. Kant, einst Hausbesitzer „Auf dem Prinzessinplatz“ am Schloß, wo heute der Betonkoloß, das „Haus der Sowjets“ steht, ist da weniger der Philosoph der drei „Kritiken“, vielmehr ein großer — deutscher — Bürger, ein Aushängeschild dieser Stadt, deren Vergangenheit lange Zeit totgeschwiegen wurde. Eine Bewegung, die recht schwärmerisch- romantisierend und auch antisowjetische Züge angenommen hat, die in der Region Kaliningrad weit verbreitet sind. „Königsberg“-Autoaufkleber und Sticker in gotischer Schrift sind im Straßenbild gang und gäbe. Ein russischer Ingenieur, Mitte zwanzig, an der Jacke „Königsberg über alles“, lief gar mit einem Schild herum: „Den 29. Parteitag der KPSS halten wir in Nürnberg ab“, die beiden „S“ in bekannter Runenschrift. Im Gespräch brandmarkte er die „Barbarei der Sowjets“ bei der Unterdrückung der Geschichte Kaliningrads. Die Besinnung auf die Historie nimmt teilweise Züge einer Deutschtümelei an, die hiesige Vertriebenenverbände erfreuen würde. In Kontrast zu deren nie verstummten großdeutschen Phantasien steht aber etwa Kants Schrift Zum ewigen Frieden, die mit deutschem und russischem Expansionismus — bei der Teilung Polens — ins Gericht geht.

Kaum als kritischen Philosoph und Aufklärer des 18. Jahrhunderts, sondern als bloße Kulturfigur fungiert der prominente Königsberger in der Widmung russischen Philosophen eines Besuchers, der als „Kant- Fanatiker“ unterschrieb. Und die Bände der genannten Kant-Buchausstellung fanden sich sehr zur Überraschung des Organisators wie Reliquien in verschlossenen Glasvitrinen des Museums wieder — statt zum öffentlichen Gebrauch in einer Bibliothek.

Die Anstrenungen, auch der 700jährigen deutschen Geschichte habhaft zu werden, haben in der Stadt vor allem bei der Restaurierung der Kirchen erkennbare Erfolge gezeigt. Die Domruine soll zu einer für alle Religionen offenstehenden Kirche wiederaufgebaut werden. Die Leitung der Restaurierung wurde dem 29jährigen Architekten Jurij Sabuga anvertraut, dessen Vater vor 45 Jahren an der Erstürmung der Stadt beteiligt war. Entgegen den Darstellungen westlicher Journalisten mit Kurzzeitvisum finden sich nicht weit vom Stadtzentrum entfernt alte Villen und zusammenhängend erhaltene Wohngebiete aus den zwanziger und dreißiger Jahren. An manchen ehemaligen Kaufläden sind die deutschen Inschriften noch deutlich lesbar.

Welche Schritte wird die einstige Krönungsstadt preußischer Könige auf dem Weg zur gewünschten Öffnung nach Westen, zum „gemeinsamen Haus Europa“ gehen, bei der Bürgermeister Chromenko sich allein 1,5 Millionen deutsche Besucher jährlich erwartet? Und welche Rolle wird die Philosophie und Person ihres berühmtesten Bewohners spielen? Bei der Eröffnungsveranstaltung des Kongresses in der Staatsuniversität waren auch Vertreter der litauischen Volksfront angereist. Wird Kant zu verklärten deutschen Symbolfigur der Separatisten? Unwahrscheinlich, daß die glatten Einverleibungsversuche ins „fortschrittliche Erbe“ solche zentrifugalen Interpretationen eindämmen können. Eher wird der preußische Philosophieprofessor als Ideenlieferant ethischer Erneuerungsdebatten oder der Stärkung rechtsstaatlicher Prinzipien auftauchen. Möglich aber auch, daß trotz des im Krieg verlorenengegangen Kant-Denkmals und des immer noch nicht gebrochenen Widerstands von Militärs und KGB die „dem Alten“ gewidmeten Einrichtungen bald zum festen Programmpunkt immer zahlreicherer westlicher Touristengruppen werden. Vielleicht wird die „fürsorgliche Belagerung“ der Übersetzerinnen dann nicht mehr so umfassend sein wie noch beim diesjährigen Philosophen-Kongreß. Kant als touristisches Highlight und Devisenbringer? Sicher eine pragmatisch-kommerzielle, aber zivile Lösung. Welch kurioser Weg, den Aufklärung da wieder gegangen wäre! Aus Kants Anthropologie in pragmatischer Absicht könnte sogar der Werbeslogan entnommen werden: „Eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zur Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden.“