Gewürdigt wurden nur die Kommunistinnen

An der Gedenkstätte für das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück ist die „Wende“ bisher fast spurlos vorbeigegangen/ Die Museumskonzeption ist noch die vom ZK der SED abgesegnete/ Jüdinnen, Bibelforscherinnen, Sinti und Roma, Prostituierte und „Berufskriminelle“ wurden darin „vergessen“  ■ Von Ulrike Helwerth

Fürstenberg (Havel) — womöglich hing dieses Schild schon damals hier, und die Ankömmlinge haben — angstvoll und gespannt durch die Ritzen der Türen und Wände der Waggons spähend — genau diese Frakturbuchstaben mühsam entziffert, als der Zug langsamer wurde und auf diesem Bahnhof zum Halten kam. Wie lange stand der „geschlossene Transport“ bis die Türen aufgestoßen und die „Fracht“ hinaus und zusammengetrieben wurde? Was schrien die Aufseherinnen? Führten sie Peitschen mit und Hunde?

War die blonde Herta dabei, die ihren „lieben Eltern zur Erinnerung an meine schöne Dienstzeit“ jenes hübsche Foto schickte: Sie in grauer Uniform, Jacke, Hosenrock, Schiffchen, schwarzes Cape, schwarze Langschäfter. Neben ihr ein großer deutscher Schäferhund mit einem Leibchen, das mit SS-Runen verziert ist. „Das ist mein treuer, kleiner Greif“, ist darunter geschrieben.

Der schläfrige Bahnhof zeigt an diesem sonnig-windigen Herbstmorgen keine Spuren, die eine solche Szene vorstellbar machen.

Wohin ging der Marsch? Dort entlang, wo ein Schild mit einem roten, auf der Spitze stehenden Dreieck den Weg weist? Aus dem Bahnhof raus, links, dann rechts eine baumgesäumte Straße hinunter an Einfamilienhäusern vorbei, die auch damals schon dastanden, bis zur „F96“, auf der heute schwerer Güterfernverkehr und die Konvois der sowjetischen Armee vorbeidonnern. Weiter stadtauswärts, an der Straßengabelung Richtung Lychen, dort, wo gerade ein Trupp müder sowjetischer Soldaten in eine gepflasterte Straße abbiegt. Sie heißt heute „Straße der Nationen“ und wurde zwischen 1939 und 1945 von Häftlingen gebaut.

Die Rekruten schlurfen weiter, verschwenden keinen Blick an jene drei ausgemergelten Frauengestalten mit kurzgeschorenen Haaren, die da am Wegrand stehen — zur Erinnerung an zigtausend andere. An die vordere Figur klammert sich ein ebenso elendes Kind. Zwei der Frauen tragen eine Bahre, auf der sich unter Lumpen ein kleiner Körper abzeichnet.

Zwischen 1943 und 1945 kamen etwa 870 Kinder im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück zur Welt. Fast alle sind dort gestorben — verhungert, erfroren. Im Geburtenbuch finden sich ihre Daten — rot ausgestrichen — und Vermerke wie: „Todgeburt“, „Lebensschwäche“.

„Revolutionäres Vermächtnis“ erfüllt

Der große Parkplatz vor der Gedenkstätte ist leer. Auch im Museum, im Gebäude der ehemaligen Kommandantur, ist außer den Angestellten kein Mensch zu sehen. Vor der „Wende“ war das anders. Täglich wurden da mehrere Busladungen osteuropäischer TouristInnen durchgeschleust und mindestens sechs Schulklassen. Meistens absolvierten sie hier, in Vorbereitung auf ihre „Jugendweihe“, das Pflichtprogramm „Wir erfüllen das revolutionäre Vermächtnis“.

„Früher graute uns vor allem vor den Monaten September und Oktober, weil wir drei bis vier Mal pro Tag Führungen machen mußten“, erinnert sich Eberhard Dentzer, kommissarischer Direktor der Gedenkstätte. In diesem Herbst haben sich nur wenige Schulklassen angemeldet, und die osteuropäischen TouristInnen bleiben auch aus, weil Reisen in die ehemalige DDR mittlerweile unerschwinglich teuer sind. Heute kommen nur noch EinzelbesucherInnen, wenn es hoch kommt fünfzig pro Tag, die meisten aus Westdeutschland.

Sonst aber hat sich kaum etwas geändert. Die „Besucherordnung“ mit Datum vom 1.März 1989 verkündet nach wie vor: „Die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück ist ein Ort der Bewahrung revolutionärer Traditionen und des Gedenkens an die Opfer des nationalsozialistischen Regimes.“

Auch die Museumskonzeption ist noch so, wie sie 1983 vom ZK der SED geplant und abgesegnet worden ist. Der Rundgang beginnt mit der Fratze des Faschismus: Hitler, Goebbels, Göring, das „Monopolkapital“, Fotos von Massenaufzügen der deutschen Wehrmacht, Massengräber, Erschießungsszenen. Dem deutschen Imperialismus, „Stoßkeil des Weltimperialismus gegen die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ folgt, als Antipodin, die „Weltenwende“, die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ mit Bildern und Sprüchen von Lenin und dem Hinweis: „Die KPD verband den Kampf um rechtliche und soziale Gleichstellung der Frau nach dem Vorbild der Sowjetunion mit den aktuellen Tagesfragen des politischen Kampfes gegen den Imperialismus und gegen den aufkommenden Faschismus.“

Eine Arbeiterfrau wird ins Bild gerückt und Clara Zetkin; ein „Kampfkongreß werktätiger Frauen für die rote Einheitsfront“ wird dokumentiert. Eine Fotogalerie zeigt Kommunistinnen, die von den Nazis ermordet wurden. Um das Lager selbst geht es erst in der zweiten Hälfte des Museums. Den Grundstein für dieses einzige, nur für Frauen bestimmte Konzentrationslager mußten männliche Häftlinge des KZ Sachsenhausen legen. Am Ufer des Schwedt-Sees errichteten sie Ende 1938 die ersten Baracken. Mitte Mai 1939 traf der erste Transport weiblicher Häftlinge in Ravensbrück ein. Bis zur Befreiung am 30.April 1945 wurden schätzungsweise 133.000 Frauen und Mädchen aus über 20 Ländern eingeliefert, die meisten aus Polen, Deutschland und der Sowjetunion: „Politische“, Jüdinnen, Bibelforscherinnen, „Berufskriminelle“, Sinti und Roma, Prostituierte, Lesben und „Rassenschänderinnen“.

Die Lagerrealität bleibt ausgeblendet

Über 90.000 wurden durch Arbeit vernichtet, wurden erschossen, vergast, zu Tode geprügelt, gespritzt, bei medizinischen Versuchen ermordet. Viele verhungerten. In lagereigenen Produktionsstätten preßte die SS das Letzte aus den Häftlingen heraus, ganze Kolonnen wurden an Betriebe und Güter in der Umgebung „vermietet“. 1943 errichtete die Siemens-Schuckert AG hier ein firmeneigenes Lager mit Arbeits- und Wohnbaracken, in dem mehr als 2.000 Häftlinge für die Kriegsproduktion geschunden wurden.

Wie aber hat diese riesige Notgemeinschaft, wie haben diese zigtausenden Frauen mit den unterschiedlichsten Biografien und Muttersprachen, kulturellen und sozialen Hintergründen, religiösen und politischen Überzeugungen ihr Dasein in „der Hölle von Ravensbrück“ gefristet? Darüber gibt das Museum kaum eine Antwort. Nähergebracht wird nur die kleine Minderheit der „antifaschistischen Widerstandskämpferinnen“, meist Kommunistinnen. Namen wie Rosa Thälmann und Anni Sindermann, lapidare Kurzbiographien und der Vermerk: Trägerin des „Vaterländischen Verdienstordens“ (der DDR).

Der großen Gruppe der Jüdinnen ist eine kleine Vitrine gewidmet, die „Bibelforscherinnen“ finden einmal Erwähnung, die anderen werden ganz unterschlagen. Kein Hinweis natürlich auf die Schriftstellerin Margarete Buber-Neumann, die fünf Jahre in Ravensbrück eingesperrt war, nachdem sie von der sowjetischen Staatspolizei 1940 an die deutschen Faschisten ausgeliefert worden war.

Margarete Buber-Neumann war verheiratet mit Heinz Neumann, einem der führenden Männer der KPD. Sie lebte mit ihm in Moskau, bis er 1937 von Stalins Geheimpolizei NKWD verhaftet wurde und spurlos verschwand. Ein Jahr später wurde auch sie festgenommen und kam ins Lager Karaganda im asiatischen Teil der Sowjetunion. Von den Kommunistinnen im Lager Ravensbrück wurde sie als „Verräterin“ geächtet und gehaßt.

Sie überlebte das Lager und legte später eindrücklich Zeugnis über den unmenschlichen Lageralltag, aber auch über die vielen großen und kleinen Menschlichkeiten und Heldentaten ab *1. Dabei beschrieb sie auch sehr kritisch den Sonderstatus, den die Kommunistinnen als „Funktionshäftlinge“ der SS im Lager besaßen, wie sie die Privilegien zugunsten ihrer Genossinnen oder zu Lasten ihrer „Feindinnen“ nutzten*2.

Eberhard Dentzer, der Direktor, findet die Museumskonzeption heute „monströs“. Reformierbar sei da nichts, alles müsse verändert werden. „Die ganze einseitige Darstellung des kommunistischen Widerstands, die der Ideologie unseres Landes entsprach“, müsse umgeschrieben werden zugunsten der Lagerwirklichkeit, die Häftlinge gehörten in den Mittelpunkt gerückt. Denn „die Besonderheiten eines Frauen-KZ sind ja nie ausgesprochen worden“.

Ein paar neue Vorstellungen haben Dentzer und seine MitarbeiterInnen bereits formuliert. In einem Archiv und einer Bibliothek sollen alle verfügbaren Dokumente und Materialien über das ehemalige Lager gesammelt, die Forschung, vor allem über die „vergessenen“ Häftlingsgruppen — aber auch über die Täterinnen — gefördert werden.

In der Tat ist das Material über Ravensbrück im Vergleich zu den ehemaligen Männer-KZ mager. Die meisten Unterlagen vernichtete die SS, bevor sie das Lager räumte. Den Rest beschlagnahmten die sowjetischen Befreier, oder er verschwand im Ostberliner Archiv der Stasi. Von dort wurde jüngst ein guter Meter Originaldokumente an die Gedenkstätte überstellt. Nichts Brisantes, wie Eberhard Dentzer beteuert: keine Akten über das SS-Personal, keine Dokumente aus der Lagerzeit selbst, sondern nur Erlebnisberichte, die ehemalige Häftlinge nach 1945 anfertigten.

Vielleicht läßt sich ja noch etwas aufarbeiten. Vielleicht kann in Ravensbrück eine „Frauen- und Jugendbegegnungsstätte“ eingerichtet werden, wo sich Überlebende des KZs und Frauen, die über das Lager geforscht und publiziert haben, treffen können. Eile ist geboten, denn die Zeitzeuginnen sterben allmählich weg.

Wie Buchenwald und Sachsenhausen fiel auch Ravensbrück im SED-Staat unter die „besonders zu schützenden Kulturgüter“ und war mit einem Jahresetat von rund einer Millon Mark gut ausgestattet. 38 Menschen gab hier der „angeordnete Antifaschismus Arbeit und Brot“, wie Dentzer sagt. Der Direktor und seine MitarbeiterInnen wissen wohl, daß die Gedenkstätten im Westen mit einen Bruchteil an Geld und Personal auskommen müssen.

Aus Befreiern wurden Besatzer

In der Gemeinde Fürstenberg, auf deren Terrain Ravensbrück liegt, schert sich niemand um die Zukunft der Gedenkstätte. Die Bürgermeisterin, Christa Kühne, weiß auch nicht, was aus dem Gelände des ehemaligen Lagers werden soll, wenn die Sowjets abziehen.

Am 30.April 1945 befreite die Rote Armee Lager und Stadt. Ein alter sowjetischer Panzer am Eingang von Ravensbrück zeugt heute noch davon. Die „Freunde“ kamen — und blieben. Sie besetzten den größten Teil des ehemaligen Konzentrationslagers, bauten dort ihre Kasernen und quartierten die Offiziersfamilien in den einstigen Wohnhäusern der SS ein. Auf 5.000 FürstenbergerInnen kommen in und um das Städtchen schätzungsweise bis zu 35.000 Angehörige der sowjetischen Armee.

Die Stimmung gegen die „Besatzer“ hat sich in den letzten Monaten auch in Fürstenberg verschärft. Die Einheimischen sind sehr schlecht zu sprechen auf „die Russen“ und ihre einstigen Privilegien, auf die bevorzugte Versorgung mit Lebensmitteln und Wohnraum, die „Hamsterei“ der sowjetischen Offiziersfrauen in den früher dürftig ausgestatteten Läden des Städtchens. Die Einheimischen schimpfen auf den nachlässigen, zerstörerischen Umgang der sowjetischen Armee mit Gebäuden, Straßen und Natur. Von der einst propagierten „deutsch-sowjetischen Freundschaft“ keine Spur.

Wie sieht Eberhard Dentzer die Zukunft des ehemaligen Lagergeländes, wenn die Rote Armee abgezogen sein wird? „Bloß nicht in die Gedenkstätte integrieren“, empfiehlt er. Das Terrain sei völlig verändert und ruiniert worden, eine Rekonstruktion käme viel zu teuer.

Zur Gedenkstätte gehört neben der ehemaligen Kommandantur das Krematorium und der dahinter gelegene zweistöckige „Zellenbau“. Im Bunker, wie er von den Häftlingen genannt wurde, befanden sich die Arrest- und Folterkammern. Hier (ver)hungerten Frauen wochen- und monatelang in Dunkelhaft, hier hielten die SS-Aufseherinnen einmal wöchentlich ihre Prügelorgien ab.

Draußen gab es keinen Widerstand

In den renovierten, frisch getünchten Zellen haben Ravensbrück-Komitees verschiedener Länder Gedenkstätten für ihre Gefährtinnen gestaltet. Über die ästhetische Umsetzung läßt sich streiten, aber der antifaschistische Pathos ist hier längst nicht so triefend wie im Lagermuseum. In einem kahlen Raum hängen Zeichnungen von ehemaligen Häftlingen, die sehr viel eindringlicher die Brutalität und Verzweiflung, aber auch Menschlichkeit und Zuneigung im Lager zum Ausdruck bringen, als alles, was im Museum zu sehen ist.

Hinter dem Zellenbau verläuft ein Stück der ehemaligen Lagermauer. „Klagemauer“ nannten die Häftlinge diese über vier Meter hohe rötliche Backsteinwand, bewehrt mit starkstromgeladenem Stacheldraht. Hier lernten sich auch Margarete Buber- Neumann und Milena Jesenska kennen. Milena, die Freundin Kafkas, starb im Mai 1944 in Ravensbrück. Margarete Buber-Neumann hat das Vermächtnis ihrer Freundin erfüllt und „unser Buch“ über das Lager und ihre Liebe geschrieben.

In die Außenseite der Mauer sind mit metallenen Lettern zwanzig Ländernamen eingelassen, von Albanien bis Zypern — die Herkunftländer der Ravensbrücker Häftlinge. Vor der Mauer erstreckt sich ein großes Plateau bis zum Seeufer, überragt von einer Plastik: eine Frau, die eine Sterbende in den Armen hält. Sie blickt anklagend über den See nach Fürstenberg.

Was haben die BewohnerInnen ringsum damals mitbekommen? Wie haben auf die Todesschüsse reagiert, auf die Sirenen, die in den letzten Monaten vor der Befreiung zwei bis dreimal nachts aus dem Lager aufstiegen, um die Schreie aus dem Gaswagen zu übertönen? Was haben sie untereinander gesprochen, wenn wieder einmal die „ewig meterhohen Flammen“ aus dem Schornstein des Krematoriums schlugen und der Wind den „süßlichen Geruch“ und die Asche zu ihnen herübertrug? Haben sie nur die Fenster geschlossen und die Wäsche von der Leine genommen?

In der Jubiläumsschrift zur 700-Jahr-Feier der Stadt Fürstenberg werden zwar der „faschistischen Nacht der Willkür und der Barbarei“ und dem „besonders traurigen Kapitel“ Konzentrationslager mehrere Seiten gewidmet. Erzählt wird auch die Geschichte einer Fürstenberger Apothekenhelferin, die heimlich Medikamente und Verbandsmaterial für die Ravensbrücker Häftlinge besorgte — als ein Beispiel für den „Widerstand“ der Bevölkerung, das „für viele steht“. Aber die Jubiläumsschrift stammt aus dem Jahr 1987 und für sonstige Anteilnahme oder „Widerstand“ der FürstenbergerInnen gibt es keine Belege.

Auf dem Standesamt des Rates der Stadt findet sich eine Mitarbeiterin, die den Faschismus als junges Mädchen am Ort erlebte. Sie erinnert sich an die Häftlingskolonnen in den graublau-gestreiften Anzügen, die regelmäßig durchs Dorf zogen, an ihr „einziges unangenehmes Erlebnis“: Eines Tages, als sie mit einer Freundin an einer solchen Kolonne vorbeilief, kippte plötzlich eine der Frauen um. Spontan sprangen die Mädchen zur Hilfe, wurden aber sofort von einer der Aufseherinnen angeschrien: „Ihr wollt euch wohl gleich mit einreihen.“ Erschrocken wichen die beiden zurück.

Die Mutter des Mädchens hatte Kontakt zu den Häftlingsarbeiterinnen in der Strohflechterei. Manchmal sei sie mit ihr dorthin gegangen, um Stroh zu kaufen. Immer hätten sie den Frauen ein paar Süßigkeiten mitgebracht. „Die haben uns aber nie erzählt, daß es ihnen schlecht geht“, sagt die Zeitzeugin. Sie zögert, „...aber vielleicht hatten sie keine Erlaubnis.“

*1Margarete Buber-Neumann: Die erloschene Flamme. Schicksale meiner Zeit, Langen-Müller, München 1976

*2 Margarete Buber-Neumann: Milena, Kafkas Freundin, Wilhelm Heyne Verlag, München 1979