»Ist der Krieg vorbei?«

■ Briefe und Tagebücher von 1939 bis 1945 — heute gelesen. Eine Ausstellung im Haus am Kleistpark

Begonnen hatte das Kunstamt Schöneberg seine Ausstellungsreihe über die Nazizeit mit einem lokalen Interesse: Was läßt sich ausfindig machen über die Verhältnisse damals hier im Bezirk? 1987 wurden die Befunde zur »Nazizeit in Schöneberg« der Öffentlichkeit vorgestellt. Ein Ergebnis der Ausstellung waren für die MacherInnen weniger die zufriedenstellenden Antworten als vielmehr weitere Fragen zur Nähe bzw. Ferne jener Zeit. So baten sie 1988 in einem öffentlichen Aufruf um private, schriftliche Zeugnisse aus der Kriegszeit. Bei der Sichtung des reichlich eingesandten Materials entdeckten sie Ähnlichkeiten, Korrespondenzen, Strukturgleichheiten in der sprachlichen Beschaffenheit dieser nichtöffentlichen Texte. Und die beschäftigen sie.

Sie wählen sechs Dokumente aus, je drei von beiden Geschlechtern — drei Briefe von Männern und drei Tagebücher von Frauen — und erforschen die sorgfältig und so kleinteilig, als handle es sich um außergewöhnliche literarische Produkte. Dabei haben sie gerade solche Texte ausgesucht, die ihnen herausragend nur erschienen in ihrer prototypischen Quasi-Normalität. Es könnten allerdurchschnittlichste Jungmädchentagebücher sein oder beliebige Lokalkoloritberichte des verreisten Ehemanns an sein »liebstes, treues und braves Herzelein«. Und das bleiben sie auch durchaus; nur daß sie niedergeschrieben wurden in den Jahren zwischen '39 und '45, und deshalb schlägt sich, sozusagen notgedrungen, eben jene Wirklichkeit in ihnen nieder, die ihr jeweiliges Leben bestimmt: als Sprache von Krieg und Nationalsozialismus.

Die Ausstellung, wie sie jetzt im obersten Stock vom Haus am Kleistpark anzuschauen ist, präsentiert diese Texte, nach Geschlechtern getrennt in einem Frauen- und einem Männerraum, und führt in immer neuen Anläufen durch diese privat- öffentlichen Sprachwelten.

Aus den Dokumenten haben die Ausstellungsmacherinnen Katharina Kaiser, Insa Eschebach und Susanne zur Nieden zusammen mit ZeitzeugInnen typische Sprachmuster, ideologische Versatzstücke, zeittypische Bewältigungsformen herauspräpariert und sie als Lese- und Deutungsanleitungen genommen für eine Annäherung an die so gründlich erledigt scheinende Zeit. Fotos, Tonmaterial, Propagandatexte und einige wenige Ausstellungsgegenstände (z.B. die Handtasche, in der eine Ehefrau den ganzen Krieg hindurch einen Brief ihres zu Tode gekommenen Mannes mit sich trug) begleiten die immer wieder in einen anderen Denkkontext gestellten Kopien der Basistexte. Dazu gibt es die Begleitkommentare, Analysebefunde, Textdeutungen der Ausstellerinnen, auch etwa die nachträgliche Antwort eines Sohnes auf den ausgestellten Brief des Vaters. Das alles fügt sich — gerade da das Grundmaterial so sparsam ausgewählt worden ist — zu einem einerseits überschau- und nachvollziehbaren, andererseits durchaus beabsichtigt widersprüchlichen Bild der Kriegszeit zusammen.

Ergänzt wird die Präsentation durch eine Ausstellungszeitung — ein Katalog wurde vom Senat nicht finanziert —, die sämtliche Ebenen der Annäherung noch einmal spiegelt: Es sind Briefe abgedruckt, Tagebuchauszüge, dazu Parallelzitate aus nicht gezeigten Briefen, Fotos, Interpretationen der Ausstellerinnen, chronologische Datenüberblicke zur Zeit, Kommentare und schließlich eine ausführliche Bibliographie.

Die Ausstellung ist, wenn man das so sagen kann, nicht erschöpfend, aber komplett. Das heißt, es ist ihr nichts hinzuzufügen, und es läßt sich anhand des Materials alles nachbedenken. Es erübrigt sich mithin die übliche nachgeschobene Rezensentenbesserwisserei.

Ich habe mir nach der Ausstellung übrigens überlegt, was denn eigentlich nach 1945 in Deutschland in jene ungeheure Leerstelle eingesprungen ist, die der Nationalsozialismus hinterließ. Denn wenn mir eines deutlich geworden ist, dann die Tatsache, daß die nationalsozialistische Ideologie bis in die privatesten Beiläufigkeiten von Jungmädchensehnsüchten einzudringen vermochte. Und das gelingt — wie man spätestens am inneren Zerfall des DDR-Sozialismus sehen kann — nicht allein dadurch, daß ein System totalitär ist und, wie im NS-Staat zum ersten Mal, mit dem Rundfunk ein sprachzentrales Medium besitzt. Es muß vielmehr jene Ideologie auch so beschaffen gewesen sein, daß sie vom Volk in Zustimmung angenommen wurde — was in der DDR nicht der Fall war. Gerade die Durchsetzung der Alltags- und Privatsprache der NS-Zeit verrät eben solches grundsätzliches Einverständnis. Und in diesem Sinne war der Nationalsozialismus ein absolut beneidenswerter Sinnspender (ich weiß, was ich sage). Und das sowohl zur perönlichen Aufwertung der Menschen durch die Teilhabe an gemeinsamem Glück, Erfolg und Sieg als auch zur Aufladung von Verzweiflung, Leid, Mißerfolg, Scheitern und Unzufriedenheit mit überprivater Bedeutsamkeit; von der Erleichterung der verbindlichen Ursachenbeschaffung einmal ganz zu schweigen. In jeder Hinsicht wußte sich der einzelne immer im großen Ganzen aufgehoben.

Da eine zentrale Sinnmaschine — und vor allem ein geschlossenes Sprachsystem — in der Tat heute nicht mehr zur Verfügung steht, werden auch die sprachlichen Niederschläge übersubjektiver Zeitbefindlichkeiten sehr viel verborgener und subtiler sein. Als unentrinnbar unserer eigenen Zeit verhaftet unterliegen wir ja gerne dem Irrtum, daß wir, wenn wir privat sprechen, innerste Subjektivität ausdrücken, und wollen nicht wissen, daß das Innerste immer schon das längst vorformulierte Äußere ist. Und da die zeitgenössischen Diskurse so vielfältig sind, so widersprüchlich und partial, ist diese Verwechslung umso undurchschaubarer.

Spannend stelle ich mir eine solche Suche trotzdem vor, — nicht nur die nach zeitgenössischen Sprachformen von Krieg. Zum Beispiel könnte man Briefe und Tagebücher und vor allem auch den zeitgenössischen Kulturjargon auf seine Denkfiguren hin durchforsten. Das momentane nationale Gefasel ist da fast schon wieder zu auffällig und hat wohl auch nur vorübergehende gelenkte Behelfsfunktion. Im nachhinein wird sich womöglich die ökologische Ideologie als die herausstellen, die zu unserer Zeit am weitestgehenden unsere scheinprivate Umgangssprache und den Sinn besetzt gehalten hat. Um solcherlei herauszufinden, müßte aber wahrscheinlich der zeitliche Abstand noch größer sein als der unserer Gegenwart zur Nazi- Zeit. Christel Dormagen

Die Ausstellung »Ist der Krieg vorbei?« ist noch bis zum 11.11. im Haus am Kleistpark, Grunewaldstraße 6, 1/62, zu sehen, und zwar Di.—So. von 11—18 Uhr. Es gibt eine ganze Reihe vielversprechender Begleitveranstaltungen. Siehe dazu jeweils das »La Vie«-Tagesprogramm