Wenn's im Kreuzhang wackelt ...

Das Weltpokal-Finale der TurnerInnen in Brüssel wird wohl das letzte sein: chaotische Organisation und schlechte Behandlung der Sportler/ Nachdenken über eine jährliche WM  ■ Aus Brüssel Thomas Schreyer

Plötzlich war ein leichtes Zittern da am Schwebebalken, nachdem sie schon am Stufenbarren eine kleine Unsicherheit beim Abgang ins Wanken gebracht hatte. „Als ich jünger war“, sagte die 17jährige Swetlana Boginskaja aus Minsk, „war alles einfacher.“ Da kommt so ein Dreikäsehoch daher, aus der eigenen Frauschaft, und wird so mir nichts dir nichts Weltpokalsiegerin.

Tatjana Lissenko, 15 Jahre jung, ließ Boginskaja nicht auf den Thron steigen. Der zweite Rang sollte genügen. „Ich muß zugeben“, gestand die favorisierte Boginskaja ein, „daß ich den Druck von den Jüngeren ganz schön zu spüren bekomme.“ Ihr wurde nun schon zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit das Gold vor der Nase weggeschnappt. Schon bei den Spielen des Guten Willens in Seattle wurde sie Zweite. „Das motiviert mich zum Weitermachen. Ich möchte noch einmal oben stehen.“

In Brüssel haben sich die SowjetturnerInnen nicht auf dem Höhepunkt befunden. Die wichtigsten Wettkämpfe in diesem Jahr seien die in Seattle gewesen, und so sei zu erklären, daß die Frauen-Titelsiegerin die unbekannte Tatjana Lissenko, und Waleri Belenki vor Witali Stscherbo Erster bei den Männer wurde.

Doch bei dem immer höheren Niveau wirken sich kleinste Unsicherheiten eben schon auf die Plazierung aus. Was auch die deutschen Turner zu spüren bekamen. Andreas Wecker aus Berlin konnte sich zwar in vier Finals turnen und gewann am Pauschenpferd sogar die Bronze. An seinem Gerät, den Ringen, konnte sich der Vizweltmeister aber nicht durchsetzen. Ein Wackler beim Kreuzhang, eine Rythmusunterbrechung, und schon war eine weitere Medaille um 0,05 Punkte zu weit entfernt — Platz vier.

Die Unzufriedenheit betraf jedoch nicht nur die eigenen sportlichen Leistungen. Eine chaotische Organisation ließ die sonst genügsamen Sportler aufmurren. Sie fühlten sich von den Veranstaltern als lästiges Anhängsel behandelt. Die Unterkunft sei mangelhaft, zu weit von der Wettkampfstelle entfernt, die Verpflegung schlecht. Die Organisatoren ließen die Aktiven im Regen stehen. Mit dem Verkauf der Fernsehrechte und dem Heimschleppen der Provision schien jede Schuldigkeit getan. Das bekamen auch die Medienvertreter zu spüren, die (mit Ausnahme der Kollegen vom Fernsehen) wie unerwünschter Besuch behandelt wurden. Sie fanden nicht ein Minimum an erträglichen Arbeitsbedingungen vor. Die Organisatoren hielten es nicht einmal für nötig, Dolmetscher für die Pressekonferenzen bereitzustellen, was Waleri Belenki und Witali Stscherbo zunächst sehr lustig fanden. Cheftrainer Arkaev war jedoch mit der Zeit so genervt über das Gestammel spontaner Übersetzungen, daß er bat, das Ganze in einer anderen Sprache zu versuchen als in französisch-englischem Kauderwelsch.

Über einen 08/15-Verstärker aus Omas Disco-Keller willigt der Pressesprecher ein, woraufhin ein heiloses Durcheinander entstand, als kreuz und quer in vier verschiedenen Sprachen „gedolmetscht“ wurde. Belenki und Stscherbo hatten viel zu Lachen. Ergiebig war das internationale „Talk-In“ natürlich nicht. Arroganz und Selbstherrlichkeit der Veranstalter, die sich schon bei der Frage nach Telefonleitungen überfordert fühlten, wurden auch dadurch kaum übertüncht, daß sie in letzter Sekunde noch minimale Verbesserungen zuwege brachten.

Das Chaos von Brüssel wird sich wohl nicht so schnell wiederholen. Doch war das Weltpokalfinale TV- gerecht zubereitet, und das Fernsehen bestimmt immer mehr die Entwicklungen. Unter diesem Aspekt ist der Vorschlag zu sehen, Weltpokalturniere ganz abvzuschaffen. Beim Internationalem Kongreß des Welt- TurnerInnen-Bundes (FIE) am kommenden Wochenende in Frankfurt soll bereits entschieden werden, ob Brüssel tatsächlich letzter Austragungsort war. Statt dessen sollen — der Einnahmen durch TV-Rechte wegen — jährlich WMs stattfinden. Einmal Pflicht und Kür, einmal nur Kür. Also eine halbe und eine Ganze WM. Das eine Übersättigung stattfinden könnte, die kurzfristig mehr Turnerinnen im TV zeigt, langfristig aber die Sportart völlig ausreizen könnte, sehen die Verantwortlichen nicht. „In anderen Sportarten gibt es auch jedes Jahr eine WM“, argumentiert Turnwart Eberhard Gienger.

Männer, Boden: 1. Witali Stscherbo (UdSSR) 9,912 Punkte, Seitpferd: 1. Li Jing (China) 9,850, Ringe: 1. Belenki 9,887, Sprung: 1. Stscherbo 9,850, Barren: 1. Belenki 9,862, 5. Beckmann 9,712, 6. Wecker 9,675, Reck: 1. Belenki/Nishikawa 9,837 Frauen, Sprung: 1. Henrietta Onodi (Ungarn) 9,937, Stufenbarren: 1. Lissenko (UdSSR) 9,937, Schwebebalken: 1. Yang Bo 9,950, Boden: 1. Boginskaja 9,962.