Die Jungen leiden, und die Alten haben ihren Spaß

■ »Tanz, Marie!« in der Schiller-Theater-Werkstatt

Familienfeste, das weiß man nach diesem Theaterabend, gehören gänzlich abgeschafft, es sei denn, die Geladenen schwören schon vorher, sich so zu benehmen wie etwa die Menschen in John Hustons wunderbarem Film Die Toten, also ausgesprochen vornehm und sehr diskret.

Denn sonst steht zu befürchten, daß noch mehr solche Stücke geschrieben werden wie Tanz, Marie!. Es gibt aber davon schon genug.

Allein die Dämonen des schwedischen Dramatikers Lars Norén decken vollständig den Bedarf an Bühnenfestlichkeiten, in denen sich Gastgeber und Gäste planmäßig zuschütten, um dann nacheinander auf der seelischen Tiefebene zu landen.

Dergleichen Stücke sind meist naturalistischer Machart. Das heißt, sie entlassen den Zuschauer erst, nachdem das allerletzte Schlllückchen Alkohol aus den Beständen des Gastgebers seinen Schlund gefunden hat.

Wenn sich die Gastgeberin also in Erwartung der Familie schon nach den ersten Sätzen mit zittriger Hand ein »Fingerhütchen voll Port« genehmigt, darf der Zuschauer gewiß sein, daß später am Abend auch gehauen und getreten, an den Haaren gezerrt und an den Gürteln gefuhrwerkt wird.

Tanz, Marie! stammt zwar nicht von Lars Norén, sondern ist der letzte Teil einer Trilogie der in Berlin lebenden Autorin Gerlind Reinshagen, aber das ändert das Schema nur wenig. Es geht hier ein bißchen glimpflicher zu und das Ganze etwas mehr in die vermeintliche Tiefe. Wo eine böse Verletzung zugefügt wird, folgt bald auch ein tröstendes Wort. Es werden auch keine Omas aus Urnen gekippt, sondern immerzu Kleidungsstücke aus den Schränken gerissen, wieder reingestopft, noch mal rausgefetzt und nochmals wieder reingestopft. Damit will der Regisseur Peer Martiny sagen: Marie und ihr Mann Pauly würden gerne umziehen. Der Plunder mitsamt seinem Erinnerungsgestank geht ihnen auf die Nerven.

Eigentlich sind die beiden Alten glücklich. Erich Schellow und Anneliese Römer buddeln im destruktiven Charakter wie Kinder in der Sandkiste. Der hagere Zyniker und das überkandidelte, späte Mädchen waren immer schon ein Traumpaar. Außerdem hatte Marie zeitlebens ihren Philipp, der erst jetzt, als Endsechziger, und zufällig an diesem Abend bemerkt, daß er der Kitt war in ihrer Ehe, und Pauly hatte viele, darunter auch seine Schwiegertochter. Daß derartige Angelegenheiten immer bei Geburtstagsfeiern herauskommen, gehört zur unbegreiflichen Logik solcher Stücke.

Susanne von Borsody als Schwiegertochter Dorothee wird von der Regie am übelsten mitgespielt. Auf hochhackigen Pumps immer wieder kreuz und quer über die Bühne zu staksen, immer am Rande des Zusammenbruchs und dazu in einer Kostümjacke, die hinten geknöpft wird, das kann keinen Spaß machen. In diesem zwangsneurotischen Oberteil sieht sie aus wie eine Barbiepuppe, die von pummeligen, bösen Mädchenfäusten im Hüftbereich um hundertachtzig Grad gedreht worden ist und so im Sturmschritt durch die Puppenstube geschoben wird. Da kann man ihr nicht verdenken, daß sie jetzt gemein ist zu den anderen.

Die Jungen leiden, und die Alten haben ihren Spaß. Zum Beispiel den, sich gegenseitig fast tot zu nerven und dann im letzten Moment wieder Frieden zu schließen, um wieder von vorn anfangen zu können.

Manchmal wird sehr merkwürdig gesprochen in diesem Stück. Als Marie endlich ihr blaues Bündel aus der Nachkriegszeit gefunden hat, sagt sie zum Geburtstagsredner Philipp: »Jetzt, wo du es siehst, vielleicht daß du es einflichst in die Rede.« Und der antwortet irgendwann: »Ich dachte doch, dein Kopf sei noch, Marie, passabel.« Der poetische Furor der Autorin legt sich wie Pfannkuchen auf die Ohren.

Irgendwann ist der Plan erfüllt, daß jeder einmal mit jedem allein sein muß zwecks Beziehungsklärung; und um über die zu hetzten, die gerade draußen sind. Dann ist auch der letzte Schluck Portwein getrunken, und alle Käsehäppchen sind dem Erdboden gleichgetrampelt. Die Gäste machen den Abschied kurz, Pauly und Marie lächeln wissend und weise. Glücklich, wer diese blödsinnige Erfindung, das Leben, hinter sich hat. Doja Hacker

Tanz, Marie! von Gerlind Reinshagen. Regie: Peer Martiny. Bühnenbild: Vincent Callava. Mit Erich Schellow, Anneliese Römer und Herbert Rhom.