Kein Stück über einen Mörder

■ Wilfried Minks hat in Hamburg Koltès‘ „Roberto Zucco“ inszeniert

Wenn Roberto Zucco seine Mutter erwürgt, schleppt er sie tief in den Raum, und es geschieht beiläufig. Als er das Kind, den Jungen der Frau, die er entführt, erschießt, hat schon niemand mehr mit einem Mord gerechnet. Die Morde des Mörders Zucco werden mit Verzögerung begangen, beiläufige Akte, in denen sich der Schrecken des Stückes nicht konzentriert, seltsam beliebig, kalt. In fünfzehn Stationen will Bernard- Marie Koltès' Stück vom Mörder Zucco erzählen, der zu Beginn aus dem Gefängnis flieht und am Ende nackt vom Dach des Gefängnisses in die Sonne springt, denn „zwischen Erde und Sonne werden sie nie eine Mauer ziehen“. Faszination für den Gesetzlosen, Verklärung der Todessehnsucht?

Zucco mordet, sagt er, weil er „die anderen Tiere nicht gesehen hat“ und versehentlich auf sie getreten ist. Koltès versucht in seinem letzten Stück, dem „eiskalten Engel“ näherzukommen, der Täter wird, ohne wirklich zu handeln, der verliert und dennoch kein Opfer ist. Regisseur Wilfried Minks läßt ihn (Stefan Kurt) im vorderen Teil des riesigen, fast leeren Bühnenraums bilderbogenhaft auf all die treffen, die er umbringt, die, denen er flüchtig begegnet, und die, die ihm folgen werden, ohne ihn zu erreichen. Keiner von ihnen nutzt den Raum, nur einmal mordet Zucco in seiner Tiefe, und nur, wenn die Bühne Gefängnis wird, schwebt er unsichtbar über ihr, nur noch Stimme. Minks zeigt, daß Koltès' Figuren keinen Raum haben, der ihnen gehört. Er läßt sich dennoch ganz auf sie ein, denn sie sind der Sprache mächtig. Das unterscheidet sie von den sprachlosen Kreaturen, deren Leid und seine Ursachen zu zeigen Ziel zahlloser Sozialdramen von Horváth bis Kroetz war. Hier reden alle, und sie reden von ihrem Unglück: Zucco fürchtet, ihm werde ein Unglück zustoßen, wenn er dem Mädchen seinen Namen nennt, und er tut es dennoch. Das Mädchen (Annette Paulmann) will in sein Unglück rennen, weil das Leiden mehr Spaß macht als das Glück, und später, als Hure im Bordell, redet es von seinem Leid, das „die Abgründe der Erde ausfüllen und aus den Vulkanen schwappen könnte“. Seine Schwester weint „ohne Grund, zu festen Zeiten, auf Vorrat“. Alle reden vom Unglück, aber unglücklich sind sie nicht. Das Unglück geschieht nicht mehr; zwischen den Fernsehbildschirmen, die lautlose Flackerzeichen auf die Bühne setzen, ist es längst in die Menschen eingesickert. Sie benennen es eloquent, aber es krümmt weder ihre Leiber noch liefert es Motivationen, wie wir sie vielleicht gerne hätten, gewohnt, „der Gesellschaft“ Schuld zuzuweisen.

So, wie das Unglück durch die Menschen hindurchging und sie mit der Sprache zurückließ, sind die Gitterstäbe in Minks' Inszenierung stets präsent, real, wenn die Szenerie zum Gefängnis wird, oder als kleiner Käfig, wenn Zucco in einer U-Bahn- Station einen alten Mann trifft (glänzend: Fritz Lichtenhahn), vor allem aber zwischen den einzelnen Stationen des Stückes. Dann legen sich Gitter aus Licht über das Dunkel, eine Frauenstimme summt ein Lied und hält hörbar, immer wieder, den Atem an. Diese Musik — F.M. Einheit von den „Einstürzenden Neubauten“ hat sie beigesteuert — setzt einen leisen Akzent des Erschreckens, um so nachdrücklicher, weil auch hier auf alle spektakulären Effekte verzichtet wird. Mit dieser Reduzierung des Zucco traf Wilfried Minks eine kluge Wahl: Man begreift, aus diesen Gittern kann niemand ausbrechen, er müßte denn aus Wasser sein, ganz und gar durchlässig.

Der Mörder Zucco träumt den alten Traum, unsichtbar hinauszugelangen, still und normal und unauffällig, weil ohne jede Substanz. Das aber erträgt er nicht, denn das kann ein Mensch nicht ertragen. Minks hat nicht nur Koltès' Text vertraut, sondern ebenso seinen lebendigen Schauspielern. Die Spannung, die zwischen ihnen in fast jeder Szene entsteht, lädt Koltès' feingesponnene Sprachgitter mit dem Leben auf, das sie brauchen, um nicht in hohler Symbolik und modischem Gestus zu erstarren. Damit wird bloßgelegt, warum die Morde so beiläufig und das Stück so wenig ein Stück über einen Mörder ist: Sein geheimes Zentrum ist das Sterben des Menschen Zucco, der als Hund wiedergeboren werden will, damit er weniger unglücklich ist: „Ich möchte in Mülltonnen wühlen in alle Ewigkeit. Ich glaube, es gibt keine Wörter, es gibt nichts zu sagen.“ Die Wörter aber sind alles, was bleibt. Lore Kleinert

Bernard-Marie Koltès: Roberto Zucco. Regie und Bühne: Wilfried Minks, mit Stefan Kurt. Thalia- Theater Hamburg

Weitere Aufführungen: 5., 8., 10., 11., 17., 18. November