Abgerechnet und verspielt

■ John Dew hat in Bielefeld zwei Krenek-Einakter inszeniert

Das Dunkel hinter dem Gazevorhang beginnt sich zu lichten, und „Wehe, weh' über euch!“ ruft der Leiermann in einer absichtsvoll einfach gehaltenen Deklamation (als wäre er der „Jedermann“). Auf der Bielefelder Bühne zeichnen sich die Konturen eines chinesischen Bauwerks ab, die bekannte Silhouette am „Platz des Himmlischen Friedens“. Der einsame Wächter vor der „Volkshalle“, statt mit Drehleier mit einer Maschinenpistole ausgerüstet, besingt den „Zwingherrn in der unerstürmbaren Burg“. John Dew hat wieder einmal ein historisches Stück auf den neuen Punkt gebracht. Die Bilder und das Übertragungsmodell sind so eindeutig, einheitlich, einfältig, daß abschweifende Gedanken kaum mehr möglich erscheinen: Der sportive Antikommunismus des Regisseurs richtet sich gegen die zweitletzte Bastion des Spätstalinismus.

Ernst Kreneks szenische Kantate Die Zwingburg entstand kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Der Text soll auf den Berliner Arzt Dr. Demuth zurückgehen und von Franz Werfel bearbeitet worden sein (damals der Lebensgefährte von Kreneks Schwiegermutter Alma Mahler). Jedenfalls zuckt das Menschheitspathos des Expressionismus noch durch diese geschwollene Prosa; zugleich melden sich die Vorboten der neuen Sachlichkeit, wenn ein Bergarbeiter „nichts als Brot und Käs und Wurst und einen Kümmel übern Durst“ will. Im Kontrast hierzu aber wälzt der Vorsänger der Unterdrückungslinie (dem es nicht gelingt, „in Lied und Melodie den Taktfluch zu verwandeln“) „den unerlösenden Schlaf“ als Wolke über die Armen: „Und noch den Traum durchtappt der böse Takt.“

Die Verhandlung von Freiheit und Unterdrückung, Unterwerfung und Erlösung, die von Demuth/Werfel/Krenek in allgemeinster Form und mit einem Philosophieren in verteilten Rollen veranstaltet wurde, findet sich in Bielefeld als Anklage gegen die Unterdrückung der demokratischen Bewegung in China wieder. Und da auch das Libretto Kreneks das Fahnenschwenken und das Aufstellen einer Monumentalstatue vorsieht, geht John Dews chinesische Abrechnung zunächst auf: die Hilflosigkeit der Opposition gegen den gut organisierten Repressionsapparat tritt zutage; die „Göttin der Freiheit“ wird mitten auf dem Platz aufgestellt und dann von einem hereinbrechenden Panzer ebenso niedergewalzt wie die Repräsentanten des Freiheitswillens.

Das Anprangern der Untaten der in China herrschenden Greisenclique, die sich zunehmend wieder der „Normalisierung“ der von den westlichen Demokratien reduzierten Geschäftsbeziehungen erfreut, erscheint auf den ersten Blick plausibel und akzeptabel. Freilich berührt es nicht sonderlich, da in der chinesischen Frage tatsächlich im wesentlichen der von Bundespräsident von Weizsäcker beschworene Konsens herrscht. Zwingburgen heute zu finden und auf dem Theater zu zeigen, muß ein Regisseur nicht 12.000 Kilometer weit nach Osten streifen. Es gibt auch manches „eherne Gehäuse“, das in hiesigen Breitengraden die Geister in Schach hält und die Leiber lenkt. Aber das wäre womöglich nicht dergestalt mit rotem Effekt zu zeigen gewesen.

Papp-Panzer auf der Bühne aber vermögen Angst und Schrecken weniger darzustellen als eine einzige Geste, die „sitzt“ — die monströsen Apparate wirken eher komisch als grausam. Oder eben unfreiwillig grausig komisch — jetzt in Bielefeld. Freilich hatte John Dew die Umfunktionierung des frühen Krenek-Einakters zum antidialektischen Lehrstück intendiert. Hätte er den Klavierauszug etwas genauer besehen, so wäre ihm wohl nicht nur die Überforderung der Musik aufgefallen. Er hätte auch durchaus kritische Sentenzen im Text erkennen können, die sich mit denen befassen, welche sich auf wohlfeile Weise konform machen (und sei es auf dem „Marsch durch die Institutionen“): „Befreier wollt' ich sein und Held und Löser, zum Kerkermeister bin ich nun bestellt.“ So singt der Leiermann. Und so mag es allen ergehen, die ihr mehr oder minder bescheidenes Kontingent an Erkenntnis gebetsmühlenartig abspulen.

Nach der falsch kalkulierten „Tragödie“ noch ein komischer Krenek-Einakter in Bielefeld: Ausgerechnet und verspielt als Uraufführung. Ursprünglich ein musikalisches Fernsehspiel aus der späten Nierentisch-Periode; jetzt ein Dokument des mechanischen Serialismus. Gottfried Pilz hat einen überdimensionalen Roulette-Tisch in die Mitte der Bühne gestellt, der sich in einem schrägen Silberhimmel spiegelt und dem fanatischen Mathematiker, ganz unwissenschaftlich, schließlich einen Goldregen spendiert. Das Stück, eine „Spiel“-Oper ist von mäßiger humoristischer Qualität; daran kann auch Dews Bemühung um die eine oder andere turbulente Episode und die Anspielung auf elektronische Musik nichts ändern.

Auch in diesem Stück von 1961 jene geschwollene philosophische Ambition, von der sich Krenek in seinen gelungeneren Bühnenwerken fernhielt (die Unbekümmertheit, die theoretische Anspruchslosigkeit und das musikalische Mischungsverhältnis machen die Qualität des Sprungs über den Schatten, 1924, und von Jonny spielt auf, 1927, aus). Zu Beginn der sechziger Jahre wollte der Komponist dem „Prinzip Zufall“ zu Leibe rücken und damit Theaterbeifall einholen. Das gelang auch in Bielefeld, da vor allem Nikolaus Bergmann, Diana Amos, Ulrich Neuweiler und Susan Maclean höchst ansprechende Leistungen vernehmen ließen.

Noch ein paar solche Mißgriffe des Regisseurs Dew aber (wie schon mit Los Alamos und Candite), und er hat den in der Mitte der achtziger Jahre erworbenen Ruf verspielt. Frieder Reininghaus

Ernst Krenek: Zwingburg (Szenische Kantate), Ausgerechnet und verspielt („Spiel“-Oper in einem Akt), Regie: John Dew, Bühne: Gottfried Pilz, musikalische Leitung: David de Villiers, mit Sharon Markovich, Diana Amos, Nikolaus Bergmann, Städtische Bühnen Bielefeld

Weitere Aufführungen: 31.Oktober, 3.,9.,25. November