Licht am Ende des Tunnels

Gestern erster Durchstich beim Kanaltunnel: Eine Sechs-Zentimeter-Röhre beendet Englands Inseldasein/ Von den vielfältigen Problemen einer binationalen Röhre  ■ Vom Kontinent A. Smoltczyk

Wenn alles gutgeht und nicht noch Streiks und andere Widrigkeiten die Bauarbeiten verzögern, dann ist England seit heute auf dem Landwege zu erreichen. Für eine kontinentale Maus beispielsweise. Eine sechs Zentimeter große und hundert Meter lange Röhre verbindet ab sofort die beiden Tunnelschächte, und ein erster zarter Lufthauch wird unter dem Kanal hindurchwehen und vom Ende angelsächsischer Isolation künden.

Der Mäusetunnel dient der Orientierung: eine Sonde soll ermessen, in welchem Winkel die beiden Tunnel- Enden zueinander stehen, bevor zum Endspurt angesetzt wird. Bis zuletzt hatten Neider und technische Kleingeister geunkt, die beiden Tunnel- Enden würden sich auf halbem Wege verfehlen.

Um ihre These zu verifizieren, griffen manche gar zum Selbstversuch, schlossen die Augen und versuchten, beide Zeigefinger aufeinanderzuzuführen. In 80 Prozent aller Fälle bleibt das Rendez-vous der Fingerkuppen tatsächlich aus. Was erst, wenn sich zwei 1.200 Tonnen schwere Grabmaschinen in 50,2 Kilometer Entfernung und 40 Meter Tiefe unter dem Meeresgrund durch dunklen Kreideboden aufeinanderzubewegen?

Doch die Tunnelbauer haben sich nicht auf ihren Orientierungssinn verlassen, sondern vier Satelliten und zwei Laserkanonen in Stellung gebracht. Das Prinzip ist einfach: Mittels der Satelliten werden zunächst Orientierungspunkte auf beiden Seiten des Kanals festgelegt. Die räumliche Position der Punkte zueinander kann bis auf fünf Zentimeter genau festgelegt werden. Von den Punkten aus wird gebohrt. Im Tunnelloch selbst ist alle 187 Meter ein Infrarotgerät befestigt, mit dessen Hilfe die zurückgelegte Entfernung gemessen und einem Computer eingegeben wird. Die Orientierung zum geographischen Nordpol besorgt eine Art Kompaß namens „Gyrotheodolit“. Damit verfügt der Rechner über Winkel, Entfernung und Position zum Orientierungspunkt und kann nun seinerseits eine Laserkanone an der Tunnelinnenwand bedienen, die auf einer am Bohrgerät befestigten Zielscheibe etwaige Abweichungen von der Ideallinie anzeigt.

Robbins meets Brigitte

In einer Nische auf der französischen Tunnelseite soll, so heißt es, eine Statue der heiligen Barbara stehen, allem Dünkel hochtechnischer Rationalität ein stummes Mahnmal. Der Schutzpatronin der Tunnelbauer wird zum Abschluß ein gewaltiges Opfer gebracht: Robbins 1, Robbins 2 und Robbins 3. So haben die britischen Tunnelgräber ihre drei Tunnelbohrmaschinen genannt. Die Französinnen heißen Brigitte, Europa und Pascaline. Knapp 300 Meter sind sie lang, tragen vorne eine sternförmige, karbidhammerbewehrte Scheibe, die sich in jeder Minute einige Zentimeter durch das Gestein frißt. Robbins und Brigitte tun das seit Monaten rund um die Uhr. Hinter ihnen werden automatisch die Betonverschalungen montiert und der Aushub alle 160 Zentimeter zum Ausgang gekarrt.

Aber dennoch: Sobald sich Robbins und Brigitte in zehn Tagen dann endgültig gefunden haben, wird sich Robbins still sein eigenes Grab schaufeln und, darin einbetoniert, langsam verrosten. Eine Demontage, sagen die Leute von „Eurotunnel“, würde zu lange dauern. Zinsen und Zeitverzögerung würden mehr kosten als die ganze Maschine, mehr als zehn Millionen Pfund. Abtritt von Robbins und Brigitte. Auf tritt ein anderes Paar.

Ende Januar werden Margaret Thatcher und Fran¿ois Mitterrand zur Spitzhacke greifen, um den letzten Meter des ersten der drei Tunnels symbolisch zu durchbrechen.

Dann fangen die Probleme erst richtig an. Denn sobald die ersten Bauarbeiter sich frei im Loch bewegen können, stellen sich pikante grenztechnische und zollamtliche Fragen — man kennt das von der Berliner Mauer. Bisher galt die Maxime: alles, was die französische Fräse wegfrißt, gehört zum französischen Rechtsgebiet. Und umgekehrt. Das Prinzip der „elastischen Grenze“, wie es am 12. Februar 1986 in Canterbury im Gründungsvertrag feierlich beschlossen worden war. Weil die Engländer aber schneller bohren (der Blaukreideboden vor der englischen Küste ist weicher), usurpieren sie notwendigerweise eine Zeitlang formell französisches Staatsgebiet — solange, bis am Tag des Durchbruchs die Grenze wieder dorthin zurückschnellt, wo sie hingehört: genau in die Mitte.

Schlagbaum unter Wasser

Dann müßte theoretisch auf jedes Tunnelsegment der an Frankreich fallenden Strecke, auf jede Schiene, jede Schraube made in Great Britain Mehrwertsteuer an den französischen Staat bezahlt werden.

Damit nicht genug. Sofern man keine Schlagbäume unter Wasser errichten will: Welche gewerkschaftlichen Rechte gelten für den binationalen Tunnelarbeiter? Welche Sicherheitsvorschriften finden dann auf die freiverkehrenden Arbeiter Anwendung?

Gegenüber 'Libération‘ äußerte sich der technische Direktor von „Eurotunnel“ etwa zum Problem der Schutzhelm-Normen, die bekanntlich diesseits und jenseits des Kanals grundverschieden sind: „Wir haben drei Lösungen ins Auge gefaßt. Entweder bleibt jeder auf seinem Territorium. Oder die Arbeiter legen bei jedem Grenzübertritt ihren Helm ab und nehmen den des Nachbarn. Oder, aber das wäre zu simpel, jeder übernimmt die Normen des anderen“. Welcome Europe!