Ein Moderator an der Macht

Manfred Stolpe (SPD) wird heute zum Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg gewählt  ■ Von Matthias Geis

Berlin (taz) — Zweifellos, der Anfang vom Ende des SED-Regimes begann auch für Manfred Stolpe mit einer Niederlage. Der Mann, dem Extreme Unbehagen bereiten und der Emotionen für einen Störfaktor im politischen Prozeß hält, die es zu kanalisieren und zu bändigen gilt, muß im Herbst 89 selbst nahe daran gewesen sein, die Fassung zu verlieren. Stolpe, ein Freund eher bedächtiger Formulierungen, wurde drastisch: „Gewonnen haben diejenigen“, schrieb er in einem Essay zur Ausreisekrise im September 89, „die durch Auslösung von Turbulenzen bis hart an das Risiko eines großen Feuers die zentraleuropäische Balance zerstören wollen.“ Stolpe plagte ein Alptraum: Er sah Leute in West und Ost „eiskalt kalkulieren“ und „nationale Unruhen“ schüren, um die vier Siegermächte „zur Übernahme der DDR durch die Bundesrepublik erpressen zu können“ — schlechte Zeiten für einen geräuschlosen Diplomaten, der es bis dahin gewohnt war, in einem äußerst engen, jedoch kalkulierbaren Rahmen Spielräume auszuloten, und der es sich als Kirchenpolitiker zum Ziel gesetzt hatte, schrittweise Verbesserungen für die Menschen unter den Bedingungen des realen Sozialismus auszuhandeln. „Verloren haben alle“, so Stolpes Resümee unmittelbar vor dem Ende des SED-Regimes, „die mit Vernunft, Geduld und Verläßlichkeit deutsche und europäische Zukunft gewinnen wollen.“

Nur tastend hat sich Manfred Stolpe im Laufe des Herbstes von seiner politischen Grundüberzeugung verabschiedet. Der abrupte Stellungswechsel war nicht seine Sache. Darin unterscheidet er sich angenehm von vielen seiner West-Genossen, die schnell den bruchlosen Übergang vom SED-Partner zum kompromißlosen SED-Gegner fanden. Freilich zeitigte Stolpes Versuch, die neue Wirklichkeit mit seinen langjährigen Erfahrungen als Unterhändler zwischen Staat und Kirche zu vermitteln, eklatante Fehleinschätzungen. Selbst im September noch traute Stolpe dem Regime die notwendigen Veränderungen zu und sorgte sich, wie diese „lärmfrei, medienunauffällig und ohne Unruhe loszutreten, durchgeführt werden können“. Noch immer hielt er an seinem Credo fest, daß die gesellschaftliche Emanzipation nur im Arrangement mit der Staatsmacht zu haben sei. Im November, so formuliert es heute ein Herbstrevolutionär, schien es, als wolle Stolpe mit seinen mäßigenden Parolen „zum Gegner überlaufen“. Stolpes moderierende Rolle brachte ihm die zweifelhafte Wertschätzung des SED-Bezirkschefs Günter Schabowski. Lange schwelende Vorbehalte innerhalb der kirchlichen Opposition gegen Stolpe fanden damals ihren Höhepunkt.

Der 1935 in Stettin geborene Stolpe, seit 1982 stellvertretender Vorsitzender des Bundes der evangelischen Kirche, hatte im Laufe der 80er Jahre der Opposition ihren Ort innerhalb der Kirche gesichert. Zugleich fürchtete er die Konfrontation mit der Staatsmacht, durch die die ohnehin prekäre Balance einer „Kirche im Sozialismus“ in Gefahr hätte geraten können. Im Horizont des Unterhändlers fanden „demonstrative Elemente, Vorgänge, die sich auf der Straße und in Aktionen äußern“ (1988), keinen Platz. Nicht nur die Regimekritiker selbst, auch die Staatssicherheit kam so bei der Beurteilung von Stolpe zu diametralen Auffassungen. In mittlerweile veröffentlichten Stasi-Analysen wird seine kanalisierende Rolle gegenüber der DDR-Opposition ausdrücklich hervorgehoben. Stolpe selbst beruft sich heute, nicht ohne einen Anflug von Selbstironie, lieber auf Stasi-Quellen, in denen sein Amtssitz, das Berliner Konsistorium, als eigentliches Zentrum der DDR-Opposition bezeichnet wird.

Stolpe hat seine alles andere als stürmische Rolle während des Umbruchs im nachhinein nicht beschönigt. In eine Rede im Mai dieses Jahres auf der Wartburg streute er eine knappe, präzise Selbstkritik ein: „Ich habe die Reformfähigkeit der DDR-Führung überschätzt, ich habe die Wucht der Massenspontaneität unterschätzt, und ich habe den bereits erreichten Stand der europäischen Entspannung, der einen militärischen Befriedungsprozeß der ostdeutschen Revolution ausschloß, nicht erwartet.“

Stolpe hat die unter dem Druck der Ereignisse wegrutschenden Koordinaten seines politischen Weltbildes zäh verteidigt. Lange nachdem die Macht des Regimes gebrochen war, kritisierte er, der noch im Juni89 die Streichung des grundgesetzlichen Wiedervereinigungsgebots angeregt hatte, die Weichenstellung auf die staatliche Vereinigung und warnte vor nationaler Überheblichkeit. Seiner Konjunktur als Kandidat für alle möglichen politischen Ämter hat das nicht geschadet.

SPD-Mitglied wurde Stolpe erst im Juli dieses Jahres, unmittelbar vor seiner Nominierung zum Spitzenkandidaten in Brandenburg. Seine Distanz zur Parteilinie ist dennoch spürbar, etwa wenn er die defensiv- pessimistische Wahlkampfstrategie der SPD in fast schon Kohlscher Manier kontrastiert: „Jetzt“, so Stolpe, „müssen die vielen Millionen mitgerissen werden, und man kann ihnen mit gutem Gewissen sagen: Es geht vorwärts, es liegt im Grunde an unserem eigenen Drive.“

Doch auch mit demonstrativem Zukunftsoptimismus kann Stolpe seine jahrzehntelang eingeübte Angst vor der extremen gesellschaftlichen Reaktion, dem sozialen Aufruhr, der den planvollen politischen Prozeß zerstört, nicht gänzlich bannen. Schon deshalb taugt er nicht zum Populisten. „Nichts ist schlimmer“, so Stolpe im Februar 88, als nach der Abschiebung führender Oppositioneller in den Westen der Systemverdruß der Bevölkerung einem neuen Höhepunkt zutrieb, „als jetzt falsche Hoffnungen zu wecken und dann riesige Enttäuschungen auszulösen, die die Bedrängnis noch erhöhen.“ — Ein Credo, das Stolpe bruchlos in die neue Zeit gerettet hat.

Keine Berührungsängste mit der PDS

Es scheint, als wolle Stolpe im Amt des Ministerpräsidenten in erster Linie an seine langjährigen Vermittlererfahrungen anknüpfen. Polarisierung und laute Töne sind — wie in alten Zeiten — unerwünscht. Bemerkenswert, gerade im Unterschied zur herrschenden Parteilinie, ist die Haltung des Neu-Genossen zur PDS: keine Berührungsängste. Als „geradezu peinlich“ würde er es empfinden, „wenn man selbst jahrzehntelang Toleranz fordert und nun solche Aussagen vergessen würde“. Stolpe setzt auf Kooperation „über sämtliche Parteigrenzen hinweg“. Das und seine tiefsitzende Scheu vor der Zuspitzung freilich könnten die zukünftige Landespolitik schnell auf einen profillosen Pragmatismus der breiten Mehrheiten reduzieren, in dem Konsenszwang und das Dogma des maßvollen Weges die Entscheidungen dominieren. Stolpe könnte sich als Meister des Sowohl-Als-auch erweisen. Wie das aussehen kann, hat er mit seinen Positionen zur Stasi- Aufarbeitung bereits angedeutet: Man dürfe zwar nicht „den Fehler machen, alles unter den Teppich zu kehren“; andererseits müsse man sich im Interesse des gesellschaftlichen Friedens hüten, „nun alles genau klären zu wollen“. Bei der Vergangenheitsbewältigung schwebt ihm so etwas wie eine Fristenlösung vor, ein Vorschlag, der zeigt, daß Stolpe auch für technokratische Lösungsvarianten gut ist: „Nach einem bestimmten Zeitpunkt müßte das Thema grundsätzlich erledigt sein.“

Da werden ihm die alt-neuen Bündnisgenossen aus der Opposition widersprechen, die Stolpe — vielleicht auch in einem Akt nachholender Korrektur seines Herbstkurses — einer großen Koalition mit der CDU vorzog. Daß sich Stolpe bei seiner Regierungsbildung nicht vom naheliegenden Kalkül auf reibungslose Bonner Finanzströme leiten ließ, läßt immerhin hoffen, daß ihm die Moderation am Ende doch nicht zum Selbstzweck gerät.