Zeitschriften gelesen von Reinhard Mohr

REINHARDMOHR In wenigen Tagen jährt sich zum ersten Mal die Stunde, da die Mauer fiel, doch es scheint, als sei Benjamins Engel der Geschichte schon vor einer kleinen Ewigkeit über den Todesstreifen hinweggebraust. Ernüchterung stellt sich allenthalben ein. Was die rasende Zeit zu gewinnen versprach, verblaßt nun beim Versuch einer Bestandsaufnahme. Das „Volk ohne Zeit“ (Lothar Baier) wird mit den realen Problemen seiner Existenz konfrontiert, und da rangiert die Müllfrage allemal vor der „nationalen Frage“. Komplizierter die Intellektuellen. Sie müssen erst einmal klären, was auf den — philosophischen und ideologischen — Müllhaufen der Geschichte gehört und was nicht. Doch die intellektuelle Getrenntmüllsammlung zwischen Endlagerung und Recycling ist im Verzug. So leicht Gedanken und Ideen der Wirklichkeit vorauseilen können, so schwer kann es werden, sich von ihnen zu trennen oder sie neu zu formulieren.

Die führenden Zeitschriften der literarischen und politischen Intelligenz haben seit dem Herbst 1989 versucht, dem galoppierenden Geschichtsprozeß nach zu denken, aber erst jetzt, da die Dinge in den gemäßigten Trab zurückgefallen sind, holt die Reflexion etwas auf. Ihre vorläufige Bilanz zeigt vor allem eines: eine gewisse geistige Erschöpfung.

Vor dem Begreifen der jüngsten Geschichte steht der Hader mit ihr. Der Ostberliner Schriftsteller Fritz Rudolf Fries jedenfalls versucht im Freibeuter, die überkommene Hierarchie zwischen Theorie und Praxis durch die Phantasie des intellektuellen Märtyrertums zu retten. Von einem S-Bahnzug aus beobachtet er während der Überquerung des früheren „Niemandslands“ zwischen Ost- und West-Berlin, wie Stephan Hermlin und Uwe Kolbe, Christa Wolf und Günter de Bruyn „in einer Reihe angetreten“ sind: „Ich winke hinunter und sehe mir selber zu, der ich mich gerade hinter Gerhard Wolf verstecke, meingott, so sehr standen wir beide noch nie in der Schußlinie, Hermann Kant könnte es bezeugen, aber er schweigt, aufgereiht neben Stefan Heym, soldatisch. Einige werden zurückgerufen, sie waren gar keine Schriftsteller, und das ist nicht ihr Tribunal. Feuer frei und in den Staub Brandenburgs sinken Helga Königsdorf und Helga Schütz, Heiner Müller und Ulrich Plenzdorf, das Duo Mensching/Wenzel, Knobloch und die sächsischen Dichter Braun, Mickel und Czechowski.“ Den „Exekutionssalven“ entgehen aber auch nicht die aus der DDR getriebenen Kunert, Loest, Maron, Becker, Schlesinger, Kirsch, Novak. Der Traum von der Auserwähltheit des Schriftstellers, der Kritik masochistisch als Liquidationswunsch phantasiert, ist die ewige Kinderkrankheit einer Literatur, die vor nichts mehr Angst hat als vor dem „flauen Weltschmerz“ politischer Resignation. Lieber kapituliert man vor der Aufgabe kritischer Selbstreflexion, ernennt sich flugs zur „neuen außerparlamentarischen Opposition“ und warnt die Leser vor zu viel gesamtdeutschem Glück: „damit uns der Aufstand der Massen kein Viertes Reich beschert“.

Daß diese maßlose Selbstüberschätzung der Literatur in der DDR auch einen objektiven Kern besaß, machen die Bemerkungen Friedrich Dieckmanns über den P.E.N., die Hochregale und die Utopie deutlich. Die Partei und ihre Zensoren, die Schriftsteller, die der Partei angehörten oder doch mit ihren sozialistischen Idealen sympathisierten, und die Leserinnen und Leser, zwischen Hoffen und Bangen hin- und hergerissen — sie bildeten das „soziale System“ der Literatur zwischen Verbot und Nationalpreis, Zensur und Selbstzensur. Gerade weil der Spielraum minimal war, wuchs die Bedeutung der Literatur, die ihn nutzen mußte und nutzte, über sich selbst hinaus. Der Zensor, der versucht, ein Buch „durchzuschmuggeln“, wird zum Komplizen des Autors, wie dieser zum Komplizen der Zensur wird, wenn er sich selbst beschneidet und auf Worte verzichtet. Wie grotesk dabei die Rollen vertauscht sein konnten, zeigt eine Episode vom Frühjahr 1989. Klaus Höpcke, oberster Zensur-Exekutor im Auftrag des Politbüros, hatte auf der Vollversammlung des P.E.N.-Zentrums für die Freilassung des damals inhaftierten Vaclaf Havel gestimmt, worauf er seines Amtes enthoben wurde. Nach einer Intervention von Hermann Kant und Christa Wolf — zweifellos bei Honecker selbst — wurde die Strafmaßnahme zurückgezogen. Daß Hermann Kant und Christa Wolf wie viele andere DDR-Schriftsteller selbst nicht viel früher Vaclav Havel öffentliche Unterstützung zukommen ließen, erklärt und rechtfertigt Dieckmann mit dem Unterschied zwischen Literatur und Politik. Bei letzterer gehe es um „Strategie“ (also offenbar nicht um Moral oder Zivilcourage). Demnach solle man „in aussichtsloser Position keinen Angriff unternehmen“: „Tut man es dennoch, arbeitet man der Übermacht in die Hände. 1989 war die Situation erstmals nicht aussichtslos; es war darum völlig vernünftig, daß Christa Wolf erst zu diesem Zeitpunkt — und nicht bei einer der früheren Inhaftierungen Havels — jene Resolution einbrachte. Im Oktober (1989) war dann der Zeitpunkt gekommen, Verfassungsrechte einzufordern.“

Vaclav Havel und die ungarischen, polnischen und sowjetischen Dissidenten haben sich — trotz und wegen ihrer Klugheit — nicht an den Zeitplan des geringsten Risikos gehalten. Dafür werden sie heute auch nicht von „Liquidationskommandos“ verfolgt, die die literarische Elite des demokratischen Sozialismus mit Maschinengewehren aus den Waffenkammern des deutschen Feuilletons gnadenlos niedermähen.

Die Vierteljahreszeitschrift 'Der Alltag‘ lenkt den Blick noch einmal zurück ins Jahr 1934, als die Welt noch am Beginn des neuen Tages zu stehen schien. Annemarie Schwarzenbach, die mit ihrem Freund und Kollegen Klaus zum Schriftstellerkongreß nch Moskau gefahren war (sie starb schon 1942), berichtet mit frischer Begeisterung über den sowjetischen Bruch mit der alten Welt. Die Ausbeutung ist abgeschafft, die Arbeiter lesen schöngeistige Literatur und haben zwei Monate bezahlten Urlaub, die Kulaken sind „brauchbare Sowjetbauern“ geworden, und wenn sie hungern, liegt es nur daran, daß sie gegen den Erfolg der kollektivierten Kolchosbauern nicht ankommen. Stalin persönlich kümmert sich um ihr Wohlergehen. Die Soldaten der Roten Armee werden „zu freidenkenden und vernünftig handelnden Menschen erzogen“, und die Schriftsteller haben nur ein Ziel: Das zu tun, „was die Partei von mir verlangt“. Nur leise äußert sich die Skepsis, ob es tatsächlich die Aufgabe des Schriftstellers sei, „kämpferische und politische Entscheidungen seiner persönlichen Arbeit voranzusetzen“, ob es wahr ist, daß die Dichter des Westens allesamt „dekadente Bürger und absterbende Schönlinge“ sind. Doch hier und da nistende Zweifel werden sogleich vom unvergleichlichen Enthusiasmus der Sowjetrussen weggespült: „Die Menschen sind hier von einer manchmal aufreizenden Heiterkeit.“

Sechsundfünfzig Jahre später erscheint das Kursbuch Nummer 101 unter dem Titel „Abriß der DDR“, dessen niederschmetternde Bilanz des real existierenden Sozialismus für ganz Osteuropa einschließlich der Sowjetunion gilt. Stefan Welzks Resümee der sozialökonomischen Struktur des SED-Staats liest sich wie die Psychopathologie einer Gesellschaft, an der Stümper und Idioten vierzig Jahre lang die Anwendung eines marxistisch-leninistischen Reader's-Digest ausprobiert haben. Gleichwohl bleibt es ein Mysterium, wieso Potemkins stalinistische Erben so lange über den Rest der Bevölkerung herrschen konnten. In seinem luziden „Rückblick auf den Sozialismus“ läßt Bernhard-Henri Lévy (hervorragend übersetzt von Alexander Smoltczyk) den Warschauer Philosophieprofessor Marek Siemek, bis heute Mitglied „der Partei“, zu Wort kommen: „Man sagt, der Kommunismus sei die Liebe oder zumindest die Solidarität. Ein Witz! Eine unglaubliche Mystifikation. Der Kommunismus ist der Tod der Gesellschaft. Ihre größtmögliche Atomisierung!“ Nun sind Lévys „mitteleuropäische Reisenotizen“ voller Eindrücke, die diese zerstörten Gesellschaften prägen: ein nahezu hysterischer Nationalismus, chauvinistische „Identitätsbildungen“, Mystizismen und ein virulenter Antisemitismus, der die Juden für den „freimaurerisch-bolschewistischen“ Kommunismus und das Elend von heute verantwortlich macht. „Ich kenne Faschismen, die sich auf Rasse und Boden berufen, kenne den Kult des Blutes und seine unvermeidlichen Liturgien“, schreibt Lévy. „In Mitteleuropa habe ich etwas Neues entdeckt: einen Faschismus mit historischem Antlitz.“

Die Bilanz des französischen „Antitotalitaristen“ im Jahr 1 der osteuropäischen Revolution ist düster. Dennoch möchte er nicht „in dem Gefühl aufhören, daß das Spiel gespielt und Osteuropa verloren ist, daß Westeuropa die Menschen in Osteuropa nun zwangsläufig ihren unausrottbaren faschistischen Versuchungen überlassen müßte. Es gibt Ideen, Menschen, vielleicht auch Traditionen, die sich ihnen mit Kraft entgegenstemmen.“

Ob das „Neue Deutschland“ ein Hort solcher Ideen und Menschen sein wird, gehört zu den spanndendsten — und wichtigsten — Fragen der neuen geschichtlichen Epoch. In Babylon fragt Dan Diner: „Deutschland als Schutzmacht der Juden im Osten? Vielleicht eine makabre List der Geschichte? „Keineswegs: „Man wird sich mit der Vorstellung anzufreunden haben, daß Deutschland als führendes Gemeinwesen des sich zunehmend integrierenden Kern-Europas sich auch und gerade als Protektor jüdischer Minderheiten nicht nur berufen fühlen dürfte, sondern auch gerufen werden wird.“

Über das Kräfteverhältnis zwischen der „kontingenten Identität“ der Deutschen und ihrer vornehmlich seit 1945 erworbenen „postkonventionellen Vernunftidentität diskutieren im selben Heft Micha Brumlik und Hauke Brunkhorst mit demFrankfurter Philosophieprofessor Karl-Otto Apel. Nun stehe das, was „wir“ Deutschen — „Das steht im Paß“, sagt Hermann Lübbe — in den vergangenen Jahrzehnten gelernt haben, auf dem Prüfstand der Geschichte, meint Professor Apel, der als gelernter „Habermasianer“ sogleich auf die „ideale Kommunikationsgemeinschaft aller Menschen“ verfällt. In ihr müßte sowohl die Verantwortung der Deutschen für Auschwitz als auch die Regelung der gegenwärtigen „Menschheitsaufgaben (zu denen auch die Aufnahme sowjeticher Juden gehörte) thematisiert werden. Gerade die totale Niederlage von 1945 habe die Möglichkeit eröffnet, jenseits einer kontingenten nationalen Identität das Bewußtsein von „Vernunftwesen“ zu entwickeln, die auch die Fähigkeit zu einer „exzentrischen Selbstdistanzierung“ besitzen: über das „existentielle Apriori“ — „Deutscher“, „Pole“ oder „Russe“ zu sein — hinauszukommen.

Ein Blick in die konventionelle Wirklichkeit läßt Zweifel aufkommen, ob jene „zivile Gesellschaft“ dem „Staatsbegräbnis“ (Thomas Schmid, Wagenbach 1990) folgen wird. Der französische Philosoph Gilles Deleuze jedenfalls sieht die zukünftige Gesellschaft schon am „elektronischen Halsband“. In der Neuen Rundschau skizziert er den Übergang von der Foucaultschen „Disziplinargesellschaft“ mit ihren „Einschließungsterrains“ Familie, Schule, Fabrik, Gefängis zu einer „Kontrollgesellschaft“, in der Macht und Herrschaft nicht mehr in abgegrenzten Milieus, sondern in beweglichen, „transformierbaren Figurationen“ und informationellen Kontrollmechanismen ausgeübt wird. Eine Art „elektronisches Halsband“ zeige dann die Position des einzelnen an, nicht mehr die physische Situation in einer festgelegten Hierarchie.

So plausibel Deleuze' Prognose über die tendenzielle Auflösung überkommener Institutionen und Sozialstrukturen ist, so schlecht feuilletonistisch muten einige kühne Behauptungen über den modernen Kapitalismus an, der angeblich „nicht mehr auf Produkton gründet“, sondern auf „überproduktion“. Das ist entweder nichts Neues oder falsch, so falsch wie die Tehse, der Kapitalismus existiere nur noch für „das Produkt“, er kaufe „keine Rohstoffe mehr“ und verkaufe „keine Fertigprodukte“. Da mag sich der Philosoph auf ein fremdes Terrain verirrt haben. Seine Konklusion aber ist klar: Worin andere ihre Hoffnung auf „zivile Gesellschaft“ gründen, da entdeckt Deleuze die „feinverteilte Herausbildung einer neuen Herrschaftsform“: „Die Windungen einer Schlange sind noch vertrackter als die Architektur eines Maulwurfsbaus.“

Weder Schlange noch Maulwurfsbau, sondern ein authentisches Inferno — das ist Neapel, glaubt man Florence Antomarchi und Marc Saint Upéry, die in Transatlantik eine Reportage über den Verfall der Metropole des „Mezzogiorno“ geschrieben haben, wie sie in Deutschland selten zu lesen ist. „Flieht aus Neapel!“ ruft Pater Rapullino am Grab des achtzehn Monate alten Nunzio, den ein Killerkommando der Camorra nebst seinem Vater ermordet hat. „Diese Stadt bringt ihre eigenen Kinder um.“ Doch „in Neapel sterben die Kinder, bevor sie getötet werden“: „Die Stadt wird Kalkutta immer ähnlicher“, sagt der Dichter Enrico D'Angelo. „In den letzten fünfzehn Jahren ist Neapel unbewohnbar geworden.“ Und doch leben Millionen Menschen zwischen den Müllbergen und dem „wahnsinnigen Straßenverkehr“, leiden unter Trinkwasserverseuchung und Arbeitslosigkeit, dem Terror und dem Bandenkrieg der Clans, der Korruption und Inkompetenz der Behörden, der Drogensucht und einer Kriminalität, die Zehnjährige zu Großdealern macht. Innerhalb von neun Monaten fand man in „La Sanitá“, einem der ältesten Viertel Neapels, allein 45.000 Injektionsspritzen auf den unzähligen Müllbergen am Straßenrand. Das entspricht einem geschätzten Heroinverbrauch im Wert von 330 Millionen DM — mehr, als für den Wiederaufbau des Viertels nach dem katastrophalen Erdbeben 1980 zur Verfügung stand. Auf einem internationalen Kolloquium — Titel: „Die mediterranen Metropolen“ — ließen Neapels Stadtobere unterdessen über „Strukturprogramme für postmoderne Städte“ debattieren. Als ein Mann sich in den Beratungssaal im Königspalast schlich und hastig Fotokopien von Katastrophenmeldungen aus den Lokalteilen der Zeitunen verteilte, wurde er hinausexpediert.

Die Kapitulation westlich-demokratischer Gesellschaften vor ihrer eigenen Realität, die brutale Negation ihrer Grundwerte, zeigt sich drastisch stets näher rücken. Das revolutionäre Nicaragua hat versucht, sich aus seinem Elend zu befreien. Sergio Ramirez, Mitglied der sandinistischen Regierungsjunta, Stellvertreter des Präsidenten Daniel Ortega und Schriftsteller, zeichnet Kampf der Sandinisten in einem langen Artikel für Lettre International noch einmal nach. In außerordentlicher Beredtheit, deren literarisches pathos sich mit der Romantik ewiger Revolution verbindet, läßt er ein weiteres Mal den Traum vom „Reich der Gerechtigkeit“ erstehen, den viele linke Europäer teilten und tatkräftig unterstützten. Nach der dramatischen Wahlniederlage der Sandinisten im Februar 1990 schreibt er: „Die Geschichte kennt keine Paradoxe, nur Gewißheiten. Die Revolution ist nicht geschlagen.“ Daß die Guerilleros nun auf den Oppositionsbänken eines demokratischen Parlaments Platz genommen hätten, sei „Zeichen des Lichts, der Erlauchtung und des Feuers, das weiterbrennt“. Das Volk habe der Erpressung des US-Imperialismus nicht standhalten können — das ist die Quintessenz des Revolutionärs, der sein eigenes Volk vor dem Vorwurf in Schutz nimmt, es habe sich selbst verraten. Der Manichäismus von Licht und Finsternis ist in Mittelamerika sicher anders zu bewerten als in Mitteleuropa. Dennoch ist bemerkenswert, wie stark der christlich- messianisch orientierte Erlösungsglaube eigene Zweifel gegenüber den „Träumen der Vernunft“, die „Ungeheuer hervorbringen“, übertrumpft. „Irrtümer und Fehler“ der Sandinisten haben in zwei Absätzen Platz, die Revolution aber, die „immer von integren, demokratiegläubigen Menschen geführt worden ist“, wird so wenig sterben wie die Hoffnung auf den „neuen Menschen, denn bald wird es wieder Mai sein, und unter der Erde, in den Furchen, wartet die Saat unserer Toten auf neue Befruchtung. Sie werden wieder zu uns sprechen, und ihre Stimmen der Hoffnung werden klingen wie das Lachen von jungen Früchten.“

Als Herbert Marcuse 1967 vom „Ende der Utopie“ sprach, meinte er ihre Realisierung: „Alle materiellen und intellektuellen Kräfte“ für eine „freie Gesellschaft“, in der das „Reich der Freiheit im Reich der Notwendigkeit“ erschiene, alle Bedingungen für einen Weg des Sozialismus „von der Wissenschaft zur Utopie“ seien da. Heute besteht — im Wortsinn — die Notwendigkeit, das Ende der Utopie wörtlich zu nehmen.

Die Wirklichkeit hat längst jede Utopie in der Gestalt ihrer erbarmungslosen Negation überflügelt. Jetzt bleibt eine letzte Chance, die zugleich eine große Herausforderung ist. Sie betrifft die herrschenden Milieus genauso wie „das Volk“ (die Völker) und die intellektuellen „Kulturpastoren“, die Karl Heinz Bohrer (im Merkur) schon in einem „antifaschistischen Schutzbündnis“ vereint sieht, das die überkommenen Reservate geistiger Führerschaft wie eine Trutzburg verteidigt: „Das Eigentümliche des europäischen Geistes besteht darin, daß er ruhelos seine eigenen Alternativen erzeugt. Nur durch Selbstkritik und Selbstüberschreitung ist er mit sich identisch geblieben.“ Diese Erkenntnis von Jürgen Habermas, die Ulrich Preuß im 'Freubeuter‘ zitiert, um gegen den konservativen Verfassungsstillstand in der Bundesrepublik zu argumentieren, erinnert an den Kern der Sache. Die Frage, ob die „Rückkehr der Geschichte voreilig gefeiert“ wird oder nicht, mag Philosophen und Historiker beschäftigen. Entscheidend ist, daß sie nur konkret zu beantworten ist: in Neapel und Nicaragua, in Polen und in der zerfallenden Sowjetunion. Es ist das Elend gerade vieler linker Intellektueller, daß sie — um ihrer „Identität“ willen — stets die Zimmerschlachten der Vergangenheit schlagen und die wirkliche Bewegung der Geschichte mehr fürchten als ihren intellektuellen Konservativismus.

Freibeuter (Wagenbach)

Kursbuch 101 (Rowohlt)

Der Alltag (Postfach 331 Zürich)

Babylon 7/1990 (Verlag Neue Kritik)

Neue Rundschau 3/1990 (S. Fischer)

Transatlantik Oktober 1990

Merkur Sonderheft 500 (Klett Cotta)

Lettre International 10/1990