■ KURZMELDER: Gesucht: Publikum
Wachsender Konkurrenzdruck und sinkende Besucherzahlen setzen den meisten Berliner Theatern in der ersten Spielzeit nach der deutschen Vereinigung zu. Insgesamt 27 größere Bühnen mit 22.000 Plätzen — 11.500 im Westen und 10.500 im Osten — (neben annähernd 100 freien Gruppen) kämpfen um die Zuschauergunst und damit ums Überleben. Das Theaterangebot hat sich praktisch verdoppelt, doch die Zahl der potentiellen Theatergänger hat sich kaum gesteigert, auch wenn nun die Bewohner des Umlands hinzukommen.
Vor allem zahlungskräftigere Westberliner und Westtouristen gehen noch ins Theater. Um Besucher müssen besonders die Ostberliner Theater buhlen, da ihr eigenes Publikum, bedrängt von anderen Sorgen, derzeit nur sehr beschränkt am kulturellen Leben teilnimmt.
Aber auch einzelnen Bühnen im Westteil haben Schwierigkeiten. Einen merklichen Zuschauerschwund, der sie in finanzielle Schwierigkeiten brachte, erlebten die beiden sonst ausverkauften Boulevardtheater am Kurfürstendamm während der Sommermonate. Inzwischen sei die Krise bei der Komödie und beim Theater am Kurfürstendamm aber überwunden. Sinkende Auslastung beklagt das Theater des Westens, das als Musical- und Operettenhaus mit dem Friedrichstadtpalast konkurrieren muß. Die normale Auslastung sei von 90 auf 70 Prozent gesunken. Die Operette Im weißen Rößl füllte im Schnitt nur zu 40 Prozent die Plätze, doch der gute Vorverkauf für die Wiederaufnahme von La Cage aux Folles lasse hoffen.
Harald Juhnke verschafft dagegen als Der Geizige im gleichnamigen Molière-Stück dem Renaissance- Theater ein ausverkauftes Haus. Gegenüber der letzten Saison schreibt auch die in Turbulenzen geratene Freie Volksbühne steigende Zuschauerzahlen. Noch wenig betroffen ist die Schaubühne am Lehniner Platz. Lediglich die Peter-Stein-Inszenierung von Bernard Marie Koltes' Stück Roberto Zucco erreicht nicht die übliche 100prozentige Auslastung. Das liege aber am Stück und nicht an der Situation. Für die Zukunft rechnet die Schaubühne jedoch damit, daß alle Berliner Theater Probleme haben werden, denn »die Theaterbesuche im Osten müssen zunächst von den Westberlinern gemacht werden«. Bis das Lebensniveau sich angepaßt habe, stehe eine Durststrecke bevor, meint ein Schaubühnen-Mitglied.
Die zeigt sich auch beim traditionellen Brecht-Theater, dem Berliner Ensemble. Während die Brecht- Stücke oft ganz ausverkauft sind, sind die Plätze bei den übrigen Aufführungen häufig nicht einmal zur Hälfte besetzt. Obwohl es schon einzelne Vorstellungen vor fast leeren Rängen gab, steht das »BE« nach eigenen Angaben noch recht gut da.
Das traditionsreiche, über 100jährige Deutsche Theater erreichte im September lediglich 45 Prozent Auslastung, die angegliederten Kammerspiele mußten sich mit nur 32 Prozent zufriedengeben.
Die im Schnitt zur Hälfte ausgelastete, kurz nach der Jahrhundertwende gebaute Volksbühne am heutigen Rosa-Luxemburg-Platz verzeichnet diesen Trend: Neuinszenierungen wie Die Räuber und Gilgamesch sind eine gewisse Zeit nach ihrer Premiere ausverkauft. Schwach besucht werden dagegen die alten Stücke.
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