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Anpfiff in Ruinen

■ Hans-Dieter Baroth: bizarre Anekdoten über den Fußballboom im Nachkriegsdeutschland WIR LASSEN LESEN

Was haben die Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eigentlich zuerst gemacht? Sie haben Fußball gespielt! Nach der Lektüre von Hans Dieter Baroths Anpfiff in Ruinen muß man das jedenfalls glauben. In Hamburg etwa lagen zwischen dem letzten Kriegs- und dem ersten Nachkriegskick nur 100 Stunden. Landauf, landab wurden eilig die Bombenkrater auf den Spielfeldern zugeschüttet, damit darüber die improvisierten Lederbälle hoppeln konnten. Überall versuchten die Fußballvereine, das alliierte Verbot zu überwinden, das die Klubs generell als nationalsozialistische Vereinigungen qualifizierte. Das Kriegsende war der Beginn eines regelrechten Fußballbooms.

Und schon 1945 nahm die erste der neuen Oberligen, die Oberliga Süd, ihren Spielbetrieb auf. Mit leeren Mägen geisterten die Fußballspieler auf offenen Pritschenwagen durchs zerstörte Land, auf dem Weg zum nächsten Auswärtsspiel. Die Probleme der Fußballer lagen situationsbedingt weniger in mentalen Bereichen oder bei schlechten Laktatwerten. „In puncto Ernährung war der Karlsruher FV so stark im Nachteil, daß das Ernährungsproblem einen Hauptgrund des späteren Abstiegs bildete.“

Mit spürbarem Vergnügen bewegt sich Hans Dieter Baroth durch unbeschrittenes Gelände. Den Schriftsteller, Journalisten und ehemaligen Chefredakteur der Gewerkschaftszeitung Welt der Arbeit treibt die Fußballbegeisterung an und das Wissen, daß die Geschichte des Fußballs hierzulande noch nicht erzählt worden ist. Da es nirgendwo ein Fußballarchiv gibt, hat Baroth Vereinschroniken durchforstet, Fußballhelden von einst getroffen, Geschichten und Anekdoten gesammelt — und dann alles aufgeschrieben. Anpfiff in Ruinen ist das erste Ergebnis einer noch laufenden Recherche und der chronologisch letzte Band einer dreiteiligen Geschichte des deutschen Fußballs. Die Bände über die Gründerjahre des Spiels und die Zeit von 1920 bis 1945 sollen im nächsten und übernächsten Jahr erscheinen.

Anpfiff in Ruinen umfaßt den Zeitraum von 1945 bis 1950 und damit die Gründung der fünf Oberligen, die Einführung des Fußballprofis durch die Schaffung des Vertragsspielerstatuts und die große Zeit der Vereine, die auf wichtige Naturalien zurückgreifen konnten, wie etwa die „Kohlenklubs“ Katernberg, Horst-Emscher und Erckenschwick.

Allerdings zeigte der Band, daß ihr Autor kein Geschichtswissenschaftler, sondern ein passionierter Geschichtenerzähler ist. Er schöpft begeistert aus der Fülle von bizarren und abseitigen Anekdoten. Von der falschen Mannschaft, die dem Publikum in Horst- Emscher untergejubelt wird, bis zu den ersten Zuschauerausschreitungen in Bremen und Schalke. Mit Spaß zitiert er einen Spielbericht in Versen und erzählt von den zu Trikots umgenähten Nazifahnen in Hamm. Leider zerfällt das Buch aber in diese kleinen Episoden, die vom Autor bewußt auf einen an Buchlektüre eher wenig geübten Leser zugeschnitten sind. Ein richtiges Geschichtsbuch ist Anpfiff in Ruinen daher leider nicht geworden. Die Geschichte des Fußballs in Deutschland bleibt weiter noch zu schreiben. Anpfiff in Ruinen ist voller Anregungen dazu. Christoph Biermann

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