Spiele um Macht und Masken

■ Brodskys „Demokratie“ und Pirandellos „HeinrichIV.“ am Schauspielhaus Hamburg

Das Hamburger Schauspielhaus schmückt sich derzeit mit zwei Nobelpreisträgern. 1987 wurde der Leningrader Lyriker Joseph Brodsky, der sein Land 1972 verlassen mußte, mit der Literatur- Trophäe ausgezeichnet, 1934 der italienische Dramatiker Luigi Pirandello. Dazwischen liegen nicht nur Generationen, sondern auch Welten, doch auf sonderbare Weise zwingt die Bühnenzeit die Stücke der beiden Schriftsteller zusammen, gänzlich unbeabsichtigt und, das vorab, nicht mit gutem Ausgang.

In Brodskys Demokratie beginnt stalinistisches Russenambiente schon im Foyer, mit Kontrollstempeln auf den Eintrittskarten, Kosakenchören und einem kleinen schlanken Silber-Lenin auf rotem Samt. Am riesigen Tisch-Podest in der Mitte des Bühnenraumes mit Leuchtern, Aktenbergen und Telefonen tafeln die Generalsekretärin Kira Modestowna und drei ihrer MinisterInnen. Zwischen Birkhuhn, Wassermelone und Havanna ereilt sie die Anweisung der „Nr.1“: Auch in ihrer baltischen Republik müsse die Demokratie eingeführt werden. Schon der Anblick der grotesk ausgestopften, ordenbehangenen Spottgeburten russischer Machtausübung läßt vermuten, diese Demokratie werde nach ihrem Bilde ausfallen. Und unaufhaltsam kommt es denn auch so: „Hauptsache, die anderen sind der Körper und wir das Gehirn“, so das Ergebnis eineinhalbstündigen zynisch-brutalen Schwadronierens.

Die Generalsekretärin — Christa Berndl im roten, überbreiten Marschallskostüm mit goldenen Schulterstücken und Hilde Benjamin-Appeal — haut schon mal mit dem Schuh auf den Tisch. Der Justizminister besteht weitgehend aus Glatze, Augenbrauen und dicken Büscheln in den Ohren und spielt gern mit der Pistole; und der Finanzminister Gustav Adolfowitsch wird seiner deutschen Abstammung vor allem dadurch gerecht, daß er die Nummer mit dem emporschnellenden Holzarm abzieht wie weiland Dr.Seltsam, und natürlich war er auch in der SS. Geil und giftig gieren sie nach der Kultusministerin Cecilia mit der Riesennase und dem Riesenpo und dem hoch aufgetürmten roten Haarpaket, ein Grand Guignol totalitärer Abziehbilder. Fazit: die Macht ist böse und unveränderbar. Jedenfalls in Rußland. Wäre das Ganze Kabarett gewesen, hätte keiner gelacht. Weil es aber flott serviert wird (Regie: Ulrich Heising), freut man sich über die Slapstickeinlagen, aber mehr auch nicht. Chaplins Großer Diktator war besser. Die Wirklichkeit hat Brodskys Parodie längst überholt. Die Sowjetunion, die er attackiert, sieht so nicht aus, und feierlich das zu entlarven, was alle wissen, wird zum albernen Ritual, zeit- und geschichtslos. Haben wir nicht mühsam begreifen müssen, wie unfruchtbar die Theorie von den TrägerInnen der Macht als bloße Charaktermasken ist?

Um wieviel subtiler geht da Luigi Pirandellos Stück aus dem Jahr 1921 auf Maske und Identität und das Schwinden gesicherter Wahrheiten ein. Heinrich IV., der kaiserliche Büßer von Canossa — 1077 mußte er den Papst in Schnee und Winterkälte tagelang um Vergebung anflehen —, ist hier ein Zeitgenosse. Ein Sturz vom Pferd ließ ihn vor über zwanzig Jahren der Kaiserexistenz verfallen, die er als Rolle für einen maskierten Umzug der italienischen Adelsgesellschaft gewählt hatte. Pirandello erzählt vom Besuch seiner früheren Geliebten, der Marchesa Spina und ihrer Tochter, sowie seinem Nebenbuhler von einst und immer, Baron Belcredi. Sie halten ihn seither für verrückt, und seine Diener inszenieren alles, um die Illusion des Salierschlosses perfekt zu machen. Heinrichs Versteck unter der Maske ist jedoch schon lange frei gewählt, und am Ende nutzt er die Vorstellung, die die anderen von ihm haben, zur späten Rache am zynischen Belcredi.

Das Spiel mit Realität und Schein — welche Möglichkeiten hätte es geboten, Funken zu schlagen und all die Facetten aufscheinen zu lassen, die hinter den falschen Gewißheiten lauern und locken. Augusto Fernandes, der dieses Stück nach 13 Jahren zum zweiten Mal inszenierte, ist das Kunststück gelungen, nicht eine einzige von ihnen zu nutzen.

Vor einem Bühnenbild, das einen hohen, düsteren Kaisersaal andeutet, agieren die Schauspieler wie Gefesselte, denen das Spiel verboten wurde. Wenn sie doch einmal vorpreschen, kreischen sie, und das hat zumindest den Vorteil, daß der größte Teil des Publikums endlich etwas hören kann. Den Text zu verstehen, hätte sich gelohnt: Im ersten Teil spielen alle in Heinrichs vorgeblicher Wahnwelt widerwillig und verlogen mit. Doch diese quälende, ver-rückte Zeitreise zwischen Mittelalter und Maskerade, vergangener Jugend und hohl gewordener Gegenwart, sie versickert in allseitiger Lähmung. Der zweite Teil sollte die Zeitreise in eine spiegelbildlich konstruierte Räumlichkeit übersetzen. Heinrich macht seinen Dienern, den „Geheimen Räten des Kaisers“ deutlich, daß er weiß, was er tut, während sich seine Besucher zu seiner gewaltsamen Heilung entschließen. Durch Verdoppelung der Maske wollen sie die Verrücktheit austreiben. Im Kostüm von Heinrich des IV. historischer Gegenspielerin Mathilde von Toscana sollen ihm Mutter und Tochter zugleich erscheinen, die verlorene Zeit von zwanzig Jahren Leben zurückholen und einen Schock auslösen. Lediglich Ilse Ritter als Marchesa Spina macht ihre Figur intensiv und flirrend, wenn sie sich in ihrer Tochter wiedererkennt und zugleich die Zeit anhalten will.

Doch auch diese Momente versinken im schwarzen Loch nicht gespielten Spiels, und im dritten Teil schließlich, wenn Wahn und Hellsicht, historische und reale Zeit zu immer wilderen Kaleidoskopbildern ineinander stürzen könnten, sieht man im schwarzen Loch nur noch kleine Menschen zappeln. Warum Heinrich es schließlich vorzieht, in der Welt der Päpste und Kaiser zu bleiben, wir können es allenfalls ahnen, etwa wenn wir Pirandello lesen: „Für die Wahnsinnigen dauert der Traum auch bei wachen Sinnen an.“

Joseph Brodskys mißglücktes Politkabarett kommt dabei insofern wieder ins Spiel, weil uns ja nicht entgangen ist, daß die letzten Attentate auf Politiker dem Wahn näher standen als der Politik. Ob der Wahnsinn auch Glück birgt, darauf versucht Pirandellos Stück eine Antwort, auch wenn die Inszenierung in Hamburg nicht eine einzige Frage stellte. Beide Theaterabende weckten den Wunsch zu lesen. Pirandello und Brodsky. Lore Kleinert

Joseph Brodsky: Demokratie Regie: Ulrich Heising. Mit Christa Berndl, Monica Bleibtreu, Matthias Günther. Malersaal des Schauspielhauses Hamburg.

Nächste Aufführungen:

9., 10., 11. 11. sowie 26. und 27. 11.

Luigi Pirandello: Heinrich IV. Regie: Augusto Fernandes. Mit Ilse Ritter, Fritz Schediwy, Susanne Schäfer, Udo Thies. Schauspielhaus Hamburg.

Nächste Aufführungen:

6., 24. und 27. 11.