„Schlemmen“ aus dem vollen Korn

■ Liebhaber der makrobiotischen Philosophie trafen sich am Wochenende zum Körnermenü und Gedankenaustausch in Berlin Wissenschaftler bezweifeln, daß sich asiatische Ernährungsweisen mit westlichen Lebensgewohnheiten vertragen

„Es wird mit Recht ein guter Braten / gerechnet zu den guten Taten.“ Abgesehen davon, daß übermäßiger Fleischverzehr weder in ernährungsphysiologischer noch in ökologischer Hinsicht sinnvoll ist, hat Wilhelm Busch seinerzeit eine wichtige Erkenntnis in Verse gefaßt: Eine schmackhaft zubereitete Mahlzeit steigert das Wohlbefinden ungemein. Ein langes Leben (griechisch: makros bios) garantiert die pure Lust am Essen jedoch noch lange nicht. Erst die makrobiotische Ernährung, so deren Anhänger, sorge für ein harmonisches Gleichgewicht der bipolaren Kräfte Yin und Yang sowie für ein langes und gesundes Leben.

Am vergangenen Wochenende trafen sich etwa 130 makrobiotisch orientierte Menschen aus mehreren Ländern zu einem Kongreß in Berlin. Nicht allein das Schlemmen aus dem Vollen, oder genauer: aus dem vollen Korn, war der Anlaß für dieses Treffen, sondern die Verbreitung der makrobiotischen Philosophie. Friede und Harmonie, nicht nur in der Seele des einzelnen, sondern gleich im ganzen Universum ist das angestrebte Ziel. Ob das allein durch gesunde Ernährung zu erreichen ist, bleibt fraglich. Aber ein Versuch kann ja nicht schaden.

Makrobiotik ist eine der ältesten alternativen Ernährungsformen, die sich bis heute gehalten haben. Doch im Gegensatz zur Vollwertkost beruht sie nicht allein auf der Erkenntnis, daß denaturierte Lebensmittel zu Krankheiten und Mangelerscheinungen führen können, sondern sie baut auf der Philosophie des Zen-Buddhismus auf. „Yin“ und „Yang“ , das Weibliche und das Männliche, passives und aktives Prinzip (nicht zu verwechseln mit der westlich-patriarchalen Interpretation) sind die Grundlage dieser Philosophie. Beides sind die Kräfte, die das Universum in Bewegung halten, immer im Bestreben einen Ausgleich zu schaffen.

In jedem Menschen, in jedem Gegenstand, in jedem Prinzip sind diese Kräfte enthalten, also auch in der Nahrung. Zuviel Yang in der Ernährung macht dementsprechend hyperaktiv, zuviel Yin zu müde — wenn man es sehr vereinfacht interpretiert. Entsprechend erkrankt der Körper, je nachdem wie unausgeglichen die Ernährung ist.

Zu Beginn des Jahrhunderts wurde die Makrobiotik von dem japanischen Philosophen George Ohsawa entwickelt. In zehn Entwicklungsstufen sollten nach seiner Lehre bestimmte Nahrungsmittel nach und nach reduziert werden. Bei der Stufe zehn bleibt als einziges Nahrungsmittel nur noch Getreide übrig. Erst dann, so die Lehre Ohsawas, sei der „geistige Idealzustand“ erreicht. Hier jedoch liegt das grundsätzliche Mißverständnis bei europäischen Makrobioten, für die Gesundheit alleinige Getreideernährung bedeutet. Im asiatischen Kulturkreis mag eine kurzfristig einseitige Ernährung zum rituellen Brauchtum in einem spirituellen Zusammenhang gehören, auf unsere Kultur ist sie jedoch schwerlich übertragbar.

Ohsawas Schüler Mishio Kushi hat die rigide Ernährungslehre mithin auch gelockert. Die zehn Stufen spielen kaum noch eine Rolle, auch darf entgegen der alten Anweisung soviel getrunken werden wie der Körper verlangt — allerdings keine „genußgifthaltigen“ Getränke. Trotz dieser „Modernisierung“ bietet die makrobiotische Standarddiät noch genug Anlaß zur Vorsicht. 50 bis 60 Prozent der Mahlzeiten sollen aus ganzem Getreide bestehen, 25 bis 35 Prozent aus Gemüse, von dem allerdings nur etwa ein Drittel als frischer Salat serviert werden soll. Obst wird nur zum gelegentlichen Verzehr empfohlen und dann in der Hauptsache in gekochtem oder getrocknetem Zustand.

Das widerspricht in entschiedenem Maße der Empfehlung von Ernährungswissenschaftlern, mindestens 50 Prozent der Ernährung als Frischkost zu sich zu nehmen. Angesichts der Hitzeempfindlichkeit von Vitamin C kann unter Umständen ein entsprechender Mangel die Folge sein.

Problematisch ist auch die völlige Ablehnung der Makrobioten von Milch und Milchprodukten. Mit Hinweis auf die Zunahme von Allergien, unter anderem auch gegen Milchprodukte, wird Milch als schädliches Nahrungsmittel eingestuft — ungeachtet dessen, daß nicht die Milch, sondern durch Umweltverschmutzung bedingte Schadstoffe in der Milch das eigentliche Allergen sein können. Milch sei gut für Kälber, nicht jedoch für Menschen, scherzte Kushi bei der Kongreß- Pressekonferenz.

Der Verband Unabhängiger Gesundheitsberater e.V. (UGB) in Gießen wies jedoch darauf hin, daß bei Verzicht auf Milch und Milchprodukte eine ausreichende Calcium- Versorgung nicht gewährleistet sei. Dies betrifft vor allem Frauen in der Menopause, bei denen bei Calcium- Mangel verstärkt die Gefahr der Osteoporose (Knochenschwund) besteht.Für Kinder ist der Verzicht auf Milch unter Umständen sogar gefährlich. Nach einem Bericht von Winfried Günther und Claus Leitzmann für den UGB wurde bei sechs bis 14 Monate alten Säuglingen, die gänzlich ohne tierische Produkte ernährt wurden, eine Verlangsamung des Wachstums festgesellt. Sie wurden nach makrobiotischer Regel allein mit „Kokoh“, einem Produkt, das aus Getreide, Bohnen und Sesam besteht und als Milchersatz verwendet wird, gefüttert. Der geringe Kaloriengehalt dieses Gemischs bewirkte, daß das Protein nicht nur zum Wachstum, sondern vor allem zur Deckung des täglichen Kalorienbedarfs verwertet wurde.

Eine makrobiotische Ernährung, so auch die Schlußfolgerung des UGB, ist für Erwachsene unbedenklich, sofern sie sich an die Richtlinien der Vollwertkost hält, die in der Regel aus heimischen Nahrungsmitteln zusammengesetzt wird. Die Makrobiotik dagegen bevorzugt entsprechend ihrer philosophischen Herkunft viele asiatische Lebensmittel und Zutaten, die oft von Geschmack und Konsistenz für europäische Gaumen und auch Gaumenfreuden weniger geeignet sind. Vor allem der hohe Salzgehalt ist angesichts der westlichen Lebensweise wenig zuträglich. Sojaprodukte wie Miso, Tamari und Tofu, sowie Algen oder Meeresfrüchte drücken die tägliche Kochsalzaufnahme in die Höhe.

Die makrobiotische Lebensweise ist nicht mit den ärztlichen Ernährungsempfehlungen bei chronischen Krankheiten zu vergleichen, die zwar Vollkornprodukte, wenig Fleisch und vor allem Kohl in allen Variationen anraten, aber im Gegensatz zu den klassischen Makrobioten auch frisches Obst und Gemüse in möglichst rohem Zustand.

Ein Hauptargument gegen die Makrobiotik dürfte für Genießer sein, daß jegliche Nahrung nicht nur gesund sein, sondern auch schmecken und schön aussehen soll. Wohlbefinden stellt sich nicht nur über gesunde Inhaltsstoffe her, sondern auch durch Sinnenlust beim Essen. Das wird bei Makrobioten gern übersehen, die, wie Mishio Kushi behauptet, allein davon ausgehen, daß die Ernährung den Geist definiert, nicht aber ein fröhlicher Geist die Gesundheit. Womit wir wieder beim guten Braten des Wilhelm Busch wären. Petra Dubilski