Messertanzereien

■ »Der Idiot« nach Dostojewski im »Ex-Punkt Theater«

Ein kleines Ständchen wird geblasen, wo man die Treppe des Fabrikgebäudes bei »Weinert« hochgeht und in improvisierten Annehmlichkeiten sitzt. Es ist Horror- Sound vom gezupften Baß, einer Violine, dann tritt eine Harfe weich, romantisch, rhythmisch dazu; ja, klassisch streng treten uns die Musiker entgegen, stecken ordentlich und fromm in schwarz-weißer Konzertkleidung, und wie sie so spielen, ist der Rocksaum der Violinistin schon halb offen und ihre Bluse rutscht mehr und mehr ins Freie. Dann tritt ein Saxophon hinzu.

Drei Männer rennen mit Koffern im schwarzen Bühnenraum herum und kennen sich nicht. »Kommst du von draußen?« — »Nein, von viel tiefer drin«, antwortet der andere, und da ist klar, daß es sich hier um Symbolik handelt, die sich ihre Geschichte erst nachträglich sucht. Einer, Parfjonn Rogoshin, hat Geld, ist in einen pelzbesetzten dicken Mantel gekleidet, hat dunkle, leidenschaftliche Augen und trägt in diesen die ganze Rage und Selbstquälerei über Frau Natassja Phillipovna, die »schön und launisch« ist, ein Geheimnis, an das er nicht herankommt, das ihn aber vollends aus seinem bürgerlichen Lebensraum gerissen hat, so daß er seinem ehrwürdigen Vater 100.000 Rubel hinterzog, um für sie Brillantohrringe zu kaufen, die der Vater ihr dann wieder weggeholt hat. Der blasse, dünnstimmige Fürst Lew Myschkin ist »ein ganz armer Heiliger«, er hat Epilepsie; »solche hat Gott lieb«, spottet der dritte, aber Parfjonn und Lew freunden sich an, um ab jetzt beide dieser Frau verfallen zu sein und vorerst nicht zu wissen, ob sie sich hassen oder lieben sollen. Da ist also schon der dritte, Lukjan Lebedeff, er ist ein Aufschneider, ein Schönling, ein parasitärer Lackaffe mit blondem Schnurrbart in Dandykleidung, eine widerlich schwatzhafte Figur, die natürlich recht amüsant Klatsch und Tratsch betreibt und für sich selbst ein bißchen Privatleben auf diese Weise abbekommt.

Zwischen diesen Epilogen, Monologen, Dialogen tritt keineswegs die Dame selbst auf, sondern es sind sieben Damen, Vervielfältigungen der weiblichen Botschaft. Sie sind ein griechischer Frauenchor, ihre eigenen Widersacherinnen, die konträren Aspekte der weiblichen Seele, ebenso das Vorher und Nachher des Geschehens im Stück. »Er hat mich grün und blau geschlagen«, berichtet also die eine; eine andere setzt sich bereitwillig vor Parfjonn auf den Boden, sie tanzen, daß allen klar wird, was Freiheit und eine eigene weibliche Freude am Körper bedeuten, wieviel Stolz und Schönheit eigentlich in einer Frau stecken und wie sie dann auch geknickt, verletzt, gedemütigt aussieht. In wunderschönen türkisfarbenen Kostümen flirren die Frauen durch ihr doch ganz individuelles Element.

Natassja hat es tatsächlich fertiggebracht, schon mit Parfjonn vor dem Traualtar zu stehen, dann doch nein zu sagen und aus der Kirche zu rennen. Diese Konsequenz! »Ein Dämon, der meine Würde mit Füßen tritt«, sagt der Liebhaber, und sie sagt: »Ist doch ganz gleich, wie man umkommt.« Ja, psychologisch haben sie es herausgekriegt — sie liebe Parfjonn »aus dieser Lust an ihrer eigenen Zerstörung«, sagt der Fürst Lew, der sich dabei ebenso zerstört und nicht weiß, ob er Parfjonn zu fürchten habe oder die Frau. Jetzt wird mit Messer getanzt. »Ich hatte Angst, den Schmerz zu genießen«, sagt die Frau als eine der Frauen, als ein Aspekt, und der Realaspekt ist schließlich, daß auch Lew Myschkin Natassja heiraten will — »sie ist ja wie ein Kind, ich kann sie nicht verlassen« —, sein verhedderter Altruismus kommt zu spät, inzwischen hat Parfjonn Natassja entführt, und als Lew deren Versteck findet, ist die Frau bereits tot. Gregorianische Gesänge stehen im Raum, die philosophische Anmut der Szene ist ungeheuer, »ich bin gekommen, um dir zu verzeihen«, sagt der Fürst. »Es kam nur ein halber Eßlöffel Blut«, sagt sein Freund Rogoshin. Die Männer sind sich nun ganz nah. Eine umschlingende Umarmung und lange Küsse, sie scheinen beide endlich ihr wahres Selbst gefunden zu haben. Lew Myschkin kannte die große innere Klarheit früher nur kurz vor einem epileptischen Anfall, und er hatte sowieso immer sowenig, »keine Leidenschaft« gefühlt.

»Das Subversive an der Homosexualität ist die Möglichkeit von Gleichheit«, hat die Verfasserin des Stückes, Robin A. Stahmer, ins Programmheft geschrieben. Aber daß für diese »Möglichkeit von Gleichheit« erst eine Frau sterben muß, recht unproblematisch getötet wird, nimmt die Darstellung als selbstverständlich hin. Nie war Natassja zu sehen, nie wurde sie leibhaftig, real. Eine Fiktion läßt sich natürlich auch leichter töten. Vielleicht sind Frauen überhaupt Fiktionen? Inhaltlich laufen die Figuren also etwas leichtfüßig über die Manege dieses Theaters, viel klug Gefühltes wird gesprochen, was den verfluchten Knackpunkt am Ende aber nicht aufheben kannn.

Das Stück behält über zweieinhalb Stunden eine atmosphärische Zartheit, die Dramatik ist quasi auf ihre Bedeutung zurückgeworfen. So sieht man lange in die lebhaft aufgewühlten Augen von Rogoshin (Jost Papen), Lew Myschkin (Frank Heise) ist sich selbst in seiner sorgfältigen, detailbedachten Gestik und körperlichen Ergriffenheit von Zweifeln und Ambivalenzen immer treu; last not least ist Lukjan Lebedeff (Jürgen Blume) eigentlich die schillerndste Persönlichkeit, als Negativtyp vereinigt er so viele heuchlerische Persönlichkeiten in seiner Person, daß seine Monolge als Entertainment absolut für sich stehen können.

Die sieben Frauen des Chors arbeiten leichthändig mit einer intelligenten Bühnenbeleuchtung, ihre Silhouetten, Schattenspiele und ihr allgegenwärtiges Herumgelaufe verspinnen den Theaterabend im ganzen doch in ein fasznierendes metaphorisches Netz. Sophia Ferdinand

Bis zum 1.12. jeweils Do., Fr. und Sa. um 19 Uhr 30 im Querhaus, Muskauer Straße 24, Berlin 36; Telefonische Vorbestellung unter 3242285 oder 6921396.