Der nordirische Krieg ist ein Dauerbrenner

Gesprächsbereitschaft wird von IRA-Waffenstillstand abhängig gemacht/ Sinn Fein lehnt Vorbedingungen jedoch ab/ Todesschußpolitik der britischen Regierung torpediert Lösungsversuche/ Doch die Kritik an der IRA wächst  ■ Von Jürgen Schneider

Der vergessene Krieg in Nordirland ist der westeuropäischen Bevölkerung schmerzhaft in Erinnerung gerufen worden, seit die Irisch-Republikanische Armee (IRA) vor drei Jahren ihre Aktionen in England und auf dem europäischen Festland wieder verstärkt hat. Daran haben die konzertierten Anstrengungen der westeuropäischen Polizei und die Ernennung eines Koordinators für die britische Terrorbekämpfung nichts ändern können.

Die wenigen Festnahmen Verdächtiger sind eher dem Zufall geschuldet als gezielten, multinationalen Fahndungsmaßnahmen. Seit langem schon sind die England-Abteilung sowie das „General Headquarter“ der IRA — zuständig für die Operationen in England bzw. auf dem Kontinent — Hauptzielscheibe der britischen Geheimdienste. Die Infiltrierung dieser Abteilungen, die vom übrigen IRA-Apparat abgeschottet sind, blieb den geheimen Dienern Ihrer Majestät bisher allerdings versagt.

Die geographische Ausweitung des Krieges erfolgte, weil die Operationsmöglichkeiten der IRA in Nordirland vor allem in den Städten wegen der flächendeckenden Kontrolle der britischen Armee und der RUC-Polizei (Royal Ulster Constabulary) nur noch mit hohem personellen Aufwand und großen Risiken durchführbar sind.

Ausnahmen — wie der gleichzeitige Anschlag auf zwei britische Grenzkontrollstellen, bei dem vor zwei Wochen sechs Soldaten und ein Zivilist getötet wurden — bestätigen die Regel. Darüber hinaus haben die britischen Militärstrategen bereits seit Mitte der siebziger Jahre das Truppenkontingent in Nordirland stark reduziert und statt dessen die RUC und das Ulster Defence Regiment (UDR) — die nordirische Einheit der britischen Armee — personell und materiell verstärkt. Da sowohl RUC als auch UDR zu über 90 Prozent aus nordirischen Protestanten bestehen, stellen die britischen Behörden IRA-Anschläge gegen die „Sicherheitskräfte“ als „anti-protestantische Greueltaten“ dar. Die britische Armee beschäftigt allein in Belfast 150 Presse-Offiziere, die die Mär vom Religionskrieg verbreiten sollen.

Aber auch innerhalb der IRA sind Anschläge auf RUC und UDR umstritten. Die Kritiker wollen die Aktionen auf die britische Armee beschränken, um den protestantischen Bevölkerungsteil nicht noch mehr zu verprellen. Doch ein in Nordirland erschossener britischer Soldat gilt in England lediglich als Fall für die Kriegsstatistik. Dagegen erfahren Anschläge auf die britische Rheinarmee, wo die Truppen auf den Einsatz in Nordirland vorbereitet werden, und gegen Militäreinrichtungen sowie Symbole konservativer Macht in England eine viel größere Publizität.

Das anglo-irische Abkommen von 1985, das der Dubliner Regierung ein begrenztes Mitspracherecht in nordirischen Angelegenheiten einräumen sollte, hat den Konflikt einer Lösung keinen Schritt nähergebracht.

Das mußten inzwischen auch die Vertragspartner eingestehen. Die neuen Verhandlungen zwischen London und Dublin sowie zwischen den unionistischen Parteien und der gemäßigten sozialdemokratischen SDLP verlaufen zwar zäh, haben die IRA und ihren politischen Flügel Sinn Fein jedoch unter Zugzwang gesetzt, wollen sie nicht erneut — wie schon 1985 — von zukünftigen Lösungsversuchen ausgeschlossen bleiben.

Sinn Fein („Wir selbst“) wurde 1905 von dem Journalisten Arthur Griffith gegründet. Er wollte die irische Selbstbestimmung mit friedlichen Mitteln erreichen. Griffith und seine Partei blieben zunächst relativ einflußlos. Nach dem Osteraufstand von 1916, an dem auch Teile von Sinn Fein teilnahmen, wendete sich das Blatt jedoch: Zwar wurde der Aufstand nach sieben Tagen blutig niedergeschlagen und die Anführer hingerichtet, doch durch das brutale Vorgehen der britischen Besatzer schlug die ablehnende Haltung der Bevölkerung in Sympathie für die Rebellen um.

Sinn Fein trat das politische Erbe der Rebellen an: Bei den Parlamentswahlen 1918 gewann die Partei 73 der 105 irischen Mandate und rief die Republik aus. Dieser Schritt wurde von London nicht akzeptiert. Sinn Fein stellte daraufhin eine Armee — die IRA — auf, die einen Guerillakrieg gegen die britischen Truppen führte. Während der Londoner Friedenskonferenz im Dezember 1921 einigte sich die Sinn-Fein-Delegation unter Führung von Griffith mit der britischen Regierung schließlich über die Teilung der Insel. Die Wurzeln für den aktuellen Nordirland- Konflikt waren gelegt. Weite Teile der IRA lehnten den Teilungsvertrag damals ab und beschlossen weiterzukämpfen. Sie unterlagen jedoch in dem zweijährigen Bürgerkrieg und wurden von ihren ehemaligen Kampfgenossen, die den Vertrag befürworteten, erbarmungslos hingerichtet.

Auf dem Sinn-Fein-Parteitag im vergangenen Frühjahr wurde erstmals ein Zusammenhang zwischen den verhängnisvollen IRA-Anschlägen und den schlechten Wahlergebnissen von Sinn Fein in der Republik Irland hergestellt. Die Partei erhielt im Norden elf, im Süden knapp unter zwei Prozent der Stimmen. Die Intensivierung der IRA-Kampagne führte in den letzten Jahren zu zahlreichen Aktionen, die selbst hartgesottene Sympathisanten nicht mehr rechtfertigen konnten. Seit im November 1987 zwölf Menschen bei einem Bombenanschlag der IRA im nordirischen Enniskillen getötet wurden, sind wiederholt unbeteiligte Zivilpersonen ums Leben gekommen. Die öffentlichen „Entschuldigungen“ der IRA haben ihre Glaubwürdigkeit längst verloren.

Seit der Reorganisation der IRA von einer Brigaden- in eine Zellenstruktur und der weitgehenden Autonomie dieser Zellen ist die Kontrollfunktion des Armeerats, der nur sporadisch zusammentritt, geschwunden. Doch die Gewehre der IRA kontrollieren längst nicht mehr die Politik von Sinn Fein. Deren Präsident Gerry Adams überlegte bereits laut, ob eine „Strategie ohne Waffen“ nicht vielleicht die bessere Waffe sei. Ein Mitglied der trotzkistischen „People's Democracy“ sagte dazu: „Die beiden Organisationen haben schon vor längerer Zeit beschlossen, daß sie völlig unabhängig voneinander operieren. In beiden Organisationen herrscht allerdings die Meinung, daß die IRA-Freiwilligen die eigentliche Last des Krieges tragen und deshalb von Sinn-Fein-Mitgliedern nicht kritisiert werden dürfen. Da zeigt sich die Märtyrer-Ideologie der IRA.“

Sinn Fein ist jedoch nicht nur wegen der IRA-Anschläge in Schwierigkeiten. In den katholischen Vierteln Belfasts und Derrys sind die Sinn-Fein-Büros nach wie vor mehr als bloße Parteibüros. Hier berichten die kleinen Leute von Hausdurchsuchungen und Drohungen, hier erhalten sie konkrete soziale Hilfestellung und Unterstützung. Die Menschen in den katholischen Gebieten Nordirlands mögen kriegsmüde sein, was nach mehr als 20 Jahren Belagerung, härtester Konfrontation, Leid und Not, Tod und Trauer nur zu verständlich ist; die einen mögen die IRA kritisieren, weil sie der Kleinkriminalität im armen Westbelfast nicht Herr wird, die anderen härteres Vorgehen gegen die 'Hoods‘, wie die Delinquenten genannt werden, fordern. Alle aber wissen und gestehen es in Gesprächen ein: Ohne die „bhoys“ der „RA“ wäre alles nur noch schlimmer. Weil die Partei potentielle Verbündete für eine „pan- nationalistische Allianz“ nicht vor den Kopf stoßen will, unterbleiben radikale soziale, politische und ökologische Initiativen. Das Verhältnis zur Abtreibung und zur ökonomischen Entwicklung ist äußerst ambivalent. Sinn Fein spricht von einer anzustrebenden „ökonomischen Souveränität“ Irlands, während die Folgen der verfehlten EG-Politik und des Zugriffs des multinationalen Kapitals längst evident sind. Der Kampf ist im Kern eben doch auf das militärische Terrain fixiert.

Britischen Militärstrategen ist klar, daß die IRA auf diesem Gebiet nicht zu besiegen ist. Nordirlandminister Peter Brooke sagte denn auch im Frühjahr, daß Sinn Fein an Gesprächen beteiligt werden könnte, falls die IRA die Waffen niederlege. Seitdem haben Spekulationen über einen IRA-Waffenstillstand Hochkonjunktur, denn auch Sinn Fein weist ständig auf die Notwendigkeit des Dialogs hin, lehnt jedoch die Vorbedingung ab. Während des letzten Waffenstillstands Mitte der siebziger Jahre nutzte die britische Armee nämlich die Zeit, um eine Kriminalisierung des Widerstands zu betreiben und die berüchtigten H-Block-Isoliertrakte im Lager Long Kesh bei Belfast zu bauen. Die IRA benötigte mehr als zwei Jahre, um die Rückschläge zu überwinden.

Die britische Regierung setzt offenbar alles daran, um Sinn Fein von ihrer Gesprächsbereitschaft abzubringen. Darauf deuten jedenfalls die Fortsetzung der Todesschuß-Politik gegen „mutmaßliche IRA-Mitglieder“ und Forderungen nach Wiedereinführung der Todesstrafe hin, die seit dem tödlichen IRA-Anschlag auf den Thatcher-Vertrauten Ian Gow im vergangenen Sommer immer lauter werden. Doch ohne die Beteiligung von Sinn Fein und IRA gibt es keine Lösung für Nordirland. So ist das Scheitern von Brookes neuem „Zweistufenplan“ bereits vorprogrammiert. Der Plan sieht zunächst Gespräche zwischen der britischen Regierung und den nordirischen Parteien — ohne Sinn Fein — vor. In der zweiten Phase soll dann die Dubliner Regierung hinzugezogen werden.

Sinn-Fein-Präsident Gerry Adams ist dennoch optimistisch: „Vielleicht vermag die Dauerhaftigkeit des irischen Kampfes das britische Denken doch noch zu beeinflussen“, sagte er. „Schließlich gehen wir dem Europa des Jahres 1992 entgegen.“ Dieser Gedanke entspringt jedoch eher dem Wunsch nach Überwindung der nordirischen Apartheidsstrukturen, als einer fundierten Analyse des sich abzeichnenden Europa unter deutschem Dach.

Der Autor lebt als freier Übersetzer und Publizist in Dublin.