„Dieses Schlesien ist ein Leidensstaat“

■ Oberschlesien ist eine von wirtschaftlicher Not, Minderheitenproblemen und Auswanderung gebeutelte Region

Komprachitz, Gumpertsdorf, Komprachcice: drei Namen, ein Dorf und seine mehr als hundertjährige Geschichte. Ein Dorf in Oberschlesien, in dem die, die sich als polnische Minderheit in Polen fühlen, die Mehrheit sind. Von der Industriestadt Opole aus geht es aufs Land. Über Chiemelowice und Osiny. Eichen, Birken, Tannen. Rehbraun, sonnengelb, dunkelgrün. Mitten im fiedrigen Laub ein Tupfer Karmesin, daneben kräftig-rot ein Vogelbeerbaum. Flaches Land überall dort, wo die Bäume den Blick freigeben. Felder mit zartgrüner Wintersaat, umbrabraun die frisch umbrochenen Schollen auf den gepflügten Äckern.

Nach rund neun Kilometern geht es einen Hügel hinunter, vorbei an Telefonmasten mit weißen Porzellanköpfen. Die ersten Häuser von Komprachcice, noch verstreut, getrennt durch Obstwiesen, auf denen dürre Pflanzenstengel den Frost erwarten. 75 Prozent der 3.500 Menschen bezeichneten sich bei einer Listenzählung in diesem und im letztem Jahr als deutschstämmige Schlesier, 350.000 waren es in der Woiwodschaft Opole. Und die meisten haben sich im Frühjahr in der „Sozial-kulturellen Gesellschaft der deutschen Minderheit Oppelner Schlesier“ organisiert. In der Gemeinde Komprachcice mit ihren neun Dörfern und rund 13.200 Einwohnern sind von den 10.000 Deutschstämmigen etwa 8.000 in diesem Verein.

Tante Alma kommt gerade aus dem Hühnerstall. Schmächtig und gebeugt schlurft sie zu ihrem Hocker in der Küche neben Kühlschrank, Herd, und Kohleofen, der jetzt immer brennt. „In der Schule habe ich gelernt: Ich bin ein deutsches Kind“, freut sich die 86jährige, und alle Runzeln in ihrem Gesicht ziehen sich zusammen. „Deshalb bin ich dem Deutschen so anhänglich. Aber über die Polen könnt' ich nicht klagen. Sie sind immer freundlich und höflich.“

Als Tanta Alma ein Kind war, geboren in Komprachitz im Deutschen Reich, lernte sie zuerst „wasserpolnisches“ Schlesisch und dann in der Schule Deutsch. Und die Kinder aus den Dörfern im polnischen Teil Schlesiens lernten auch zuerst dieses Schlesisch und dann in der Schule Polnisch. 1935 wurde aus Komprachitz „Gumpertsdorf“, und sprechen durfte man nur noch Deutsch, auch „Wasserpolnisch“ war verboten. Zehn Jahre später lebte Alma noch immer im selben Dorf, aber das hieß jetzt Komprachcice, sie war polnische Staatsangehörige, und unterhalten durfte sie sich nur noch polnisch.

Doch seit kurzem schreibt ihr und den anderen Oberschlesiern niemand mehr vor, wie sie den Mund aufzumachen haben, und plötzlich hat Polen eine deutsche Minderheit. „Wir fordern staatlich garantierte Minderheitenrechte, deutsche Schulen, deutschsprachige Messen und einen intensiven Kulturaustausch mit der Bundesrepublik. Wir wollen jederzeit und ungehindert nach Deutschland reisen können und dort als Deutsche mit deutschen Paß alle sozialen und politischen Rechte wahrnehmen können.“ Viktor, ein 51jähriger Produktionsleiter aus Komprachcice, sitzt an seinem Küchentisch und blättert in der Vertriebenenzeitung 'Der Schlesier‘, während er die Ziele der Minderheitengesellschaft formuliert.

Aber bei den Forderungen nach einem Minderheitengesetz bleibt es nicht. Ähnlich wie bei den bundesdeutschen Vertriebenenverbänden — und von ihnen kräftig beeinflußt — träumen viele Schlesier in den Grenzen des Deutschen Reichs von 1937. „Ich habe die Hoffnung, daß Oberschlesien wieder deutsch wird.“ Darauf hofft Magda genauso wie ihr Nachbar Viktor. Doch wie das verwirklicht werden sollte, weiß keiner im Dorf. Und was passiert dann mit den Polen? „No ja, die könnten doch weiter mit uns leben. Die will doch niemand vertreiben“, sind sich die Minderheitenaktivisten einig.

Mit ihrem 16jährigen Sohn — der ältere ist in der Bundesrepublik — sitzt Magda im Wohnzimmer ihres Elternhauses in Komprachcie. Eine Freundin ist zu Besuch. Die Finanzangestellte, die wie die meisten aus dem Dorf in Opole arbeitet, zupft an ihren lose zusammengesteckten dunklen Haaren und fährt etwas leiser fort: „Insgeheim wissen wir doch alle, daß wir nicht wieder deutsch werden. Vor allem, wenn der Kohl erst mal die Grenze unterschreibt. Dann ist alles vorbei.“

Der Grenzvertrag ist das, was die Menschen, einige Tage vor dem Treffen von Kohl und Mazowiecki, ständig beschäftigt. Die Schlesier fürchten ihn wie der Teufel das Weihwasser. Die seit '45 existierende Oder-Neiße-Grenze hat für viele nie real existiert. In ihren Illusionen lebten sie nur unter polnischer Verwaltung. „Was Adenauer und Brandt nicht geschafft haben, das macht jetzt Kohl. Er verrät und verläßt uns. Er hat uns für die deutsche Einheit verkauft“, ist in Komprachcice an jeder Ecke zu hören. „Der Grenzvertrag muß so schnell wie möglich unterschrieben werden“, schimpft dagegen ein Pole aus Opole über Kohls Verzögerungstaktik. „Nur dann kann sich hier alles beruhigen.“

Doch was 45 Jahre im verschlossenen Topf gegärt hat, läßt sich nicht beruhigen, ohne eine Menge giftiger Dämpfe abzugeben. Mittelgroß und gedrungen sitzt die Freundin tief in den Sesseln von Magdas Eltern: „Zuerst mal sollen die Polen nicht mehr nach Deutschland kommen dürfen. Was wollen die da. Die verbauen uns Deutschen nur die Möglichkeiten.“ Magda hat ein ganz anderes Problem. „Hier sitzten alle auf den gepackten Koffern. Wenn die Grenze kommt, hauen sie alle ab. So sagen ganz viele.“

In den Straßen von Komprachcice ist es zu jeder Tageszeit still. Zwischen den alten Häusern in ihrem verwaschenen Rosa, mit ihren bemoosten Gartenzäunen, den vielen neuen, großen und weiß verputzten, den Gerippen der Rohbauten, die in jeder Gasse entstehen, bewegen sich nur wenige Menschen, wenige spielende Kinder. „Es ist so traurig“, erzählt der Pfarrer des Dorfes, „so viele Leute sind in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland rausgemacht. Vor allem die Jungen. Und die Alten bleiben zu Hause ohne Hilfe, ohne Hoffnung und ohne Zukunft.“

Allein in den Jahren 1978-1988 verließen 50.000 die Woiwodschaft Opole mit ihren 1.000.000 Einwohnern. In der Bundesrepublik bekamen die meisten von ihnen als ehemalige Reichsdeutsche nach §116 Grundgesetz die deutsche Staatsangehörigkeit. In Komprachcice sind die Familien in jedem zweiten Haus getrennt, ist mindestens ein Kind, eine Schwester, ein Onkel in der Bundesrepublik. Die kommen dann ab und zu, unterstützen finanziell die Dagebliebenen, die sich neue große Häuser bauen — viel zu groß für die schrumpfenden Familien.

Für Prälat Boleslaw Bilinski sind denn auch die sozialen Unterschiede im Dorf — zwischen den Leuten, die West-Kontakte haben und denen, die keine haben — das große Problem. Einen Nationalitätenkonflikt kann er nicht entdecken. „Ich bin Pole und seit 35 Jahren hier Pfarrer“, sagt er und streckt seinen spitzen Bauch in der Soutane vor. „Nie hab' ich erlebt, daß die Leute Probleme miteinander hatten, auch jetzt nicht. Sie leben doch zusammen, sie heiraten untereinander. Und eigentlich fühlen sich viele von denen, die jetzt deutsch tönen, als polnische Schlesier. Nur aus wirtschaftlichen Gründen geben sie sich jetzt so deutsch.“

„Der Pole ist falsch und faul“, so machen viele ihren Ressentiments Luft. Aber: „Den Polen geht es doch genauso schlecht wie uns. Wir leben doch zusammen, jeden Tag, und vertragen uns.“ „Hadziaje“ („Bauer“), beschimpft der Deutschstämmige den Polen und „Hanyse“ („Hannes“) der Pole den Deutschen. Aber: „In der Kneipe saufen wir zusammen, und wenn wir schon blau sind, auch aus einem Glas.“

„Mein Sohn hat eine Polin geheiratet. Und die ist prima“, kann man vom 70jährigen Johann Król hören, der sich seit neuestem wieder Kroll nennen darf. Der alte Kroll aus dem Dorf Gogolin ist der Gründer der Minderheitengruppen. Der junge Henryk Kroll hat bei den Senatswahlen im Frühjahr als „deutscher Schlesier“ kandidiert. Verloren hat er gegen Dorota Simonides, eine polnische Schlesierin, Kandidatin der Solidarność. Aber als polnische Schlesierin ist sie für die Deutschstämmigen „keine von uns“. Schlesier sind für die Minderheitenvertreter nur die aus dem ehemals deutschen Teil. In dieser Abgrenzungspolitik sieht Alexsandra Trzcielinska vom „Instytut Slaski“ in Opole eine gefährliche Tendenz. „In den Minderheitenvereinen wollen sie nur unter sich bleiben. Und außerdem wollen sie alle Kontakte nach Deutschland und jede wirtschaftliche Hilfe monopolisieren. Das schafft doch sozialen Neid und Unruhe.“ Auch Danuta Berlinska, Soziologin am Schlesischen Institut und Assistentin der Senatorin Simonides, hat Angst, daß sich die Situation zuspitzt: „Vor dem Dritten Reich hatten die Schlesier eine starke regionale Identität. Die haben sie in den letzten Jahrzehnten verloren. Jetzt suchen sie nach neuen Wegen, und die sind oft nationalistisch. Dabei haben in einer Umfrage unter den Deutschstämmigen noch 65 Prozent angegeben, daß sie sich zuerst als Schlesier und dann als Deutsche fühlen.“

Aber der Wunsch der Soziologin, die regionale Identität, die Polen und Deutschstämmige verbindet, zu stärken, scheint im Moment noch aussichtslos. „Ach, das wird noch mindestens 50 Jahre dauern, noch zwei Generationen, bis die Leute die letzten 45 Jahre, die Schikanen vergessen haben“, zieht ein Ingenieur aus Komprachcice resigniert Bilanz. Er fürchtet sich vor Fanatikern auf beiden Seiten. Denn Angst haben sie alle: „Dieses Schlesien ist ein Leidensstaat. Leider ist es so, daß wir hier alle Angst haben“, sagt der alte Kroll. „Die Polen, wenn die Grenze nicht endlich sicher wird, die Deutschstämmigen, wenn sie sich damit abfinden müssen, zu Polen zu gehören. Aber Wiedervereinigung mit Deutschland ist doch nicht möglich. Wir sind doch eine Insel. Bis zur Grenze sind es noch ein paar hundert Kilometer. Sollen wir denn unser Oberschlesien diese Strecke nach Deutschland tragen?“ Bascha Mika, Komprachcice