: LS HARRE ES DER DEMONTAGE ...
Zweitausend Kilometer mit dem Fahrrad durch
die neuen Bundesländer, als sie noch DDR hießen
VON A. SCHMIDT / N. NÄHR
Der Regen wird stärker. Das stumpfe Pflaster fängt an zu glänzen. Uns bleibt keine andere Wahl: Gemeinsam hieven wir unsere Fahrräder — eines nach dem anderen — durch den morschen Fensterrahmen in das Abrißhaus. Das fahle Licht der Laterne erhellt den Raum, in dem wir zwischen Scherben und schimmeligen Ausgaben des 'Neuen Deutschlands‘ unsere Iso-Matten auf den Holzdielen entrollen. Aus den Schlafsäcken blicken wir auf die Türme des Halberstädter Doms.
Zweitausend Kilometer sind wir auf unseren Rädern durch die damalige Noch-DDR unterwegs, doch diese Nacht im Abrißhaus bleibt die Ausnahme. Gewöhnlich sitzen wir abends an reichgedeckten Tischen und steigen danach in frischbezogene Betten. In mehreren Regionalzeitungen baten wir im Frühjahr um Übernachtungsmöglichkeiten für unsere sechswöchige Tour.
„Wir sind eine durchschnittliche DDR-Familie (zwei Kinder, Neubauwohnung, Trabant und Bungalow)“, schrieb uns Heinz E. aus Brandenburg, „und wir würden uns freuen, wenn Sie auf Ihrer Rundfahrt bei uns vorbeikommen würden.“ Eine von hundert — ansonsten so gar nicht „durchschnittlichen“ — Antworten. Es melden sich eine „rüstige radfahrende Oma“ aus Stavenhagen, der Geschäftsführer eines Schweriner Autohauses, ein Erfurter Kabarettist, ein Wesenberger Forellenzüchter, ein Greifswalder Kunsthistoriker — „wir empfangen Euch mit Blasorchester!“ — ... und alle wollen uns kostenlos bei sich aufnehmen.
Der Flair spröder Sachlichkeit
Der große Saal wirkt wie verlassen, nur am Stammtisch hockt eine Männerrunde und zockt Karten, was das Zeug hält. In der Eisenacher „Siedlungsklause“ herrscht die spröde Sachlichkeit, die wir so lieben. Ein letzte Mal DDR pur sozusagen. Hier hat noch kein Innenarchitekt Hand angelegt, alles ist, wie es ist. Auf dem nackten PVC, säuberlich angeordnet, zwanzig massive Holztische, darauf zwanzig rot-weiß karierte Tischdecken, auf denen zwanzig klobige Leuchten aus orangefarbenem Hartplastik thronen. In den Szenekneipen St. Paulis wäre sie in diesem Sommer der letzte Schrei. Hier hingegen wirkt alles, als harre es der Demontage. Man sollte den ganzen Krempel auf einen Lastwagen verfrachten und nach Hamburg schaffen. Im Gegenzug erhielte die „Siedlungsklause“ das komplette Neon- und Glasinterieur eines westdeutschen Lokals der frühen Achtziger. Beide Seiten wären zufriedengestellt. Zeitgeist.
„So was“, krächzt es hinter unserem Rücken, ein trüber Dunst dringt nach vorn. Es schmeckt nach Bier und Zigaretten. Zaghaft blicken wir uns um. Der Anhängliche hat seine blaugeränderten Augen fast geschlossen, schlaff hängt sein Kopf zur Seite, und bis auf den glühend roten Zinken wirkt das eingefallene Gesicht bedrohlich blaß. Er runzelt die Stirn und denkt offenbar angestrengt nach. „So was! Nee, so was!“ Er deutet auf die Musikbox und schüttelt den Kopf. „Ja, die Marktwirtschaft. Mein Geld stinkt auch nicht. Das Bier ist zu teuer.“ Mühsam, stockend, Satz für Satz bricht es aus ihm heraus, und mit glasigem Blick starrt er uns aus den nun weit aufgerissenen Augen an. „Ich trink' mein Bier bald zu Hause. Früher war hier auch mehr los. Ich such' mir 'ne andere Kneipe“, und schon fallen die Lider wieder zu. Unzählige Male schüttelt er uns noch die Hände, als hätten wir ihm gerade das Leben gerettet, bevor er schlurfend von dannen zieht.
Zwischen Krippe und Feierabendheim
„Auch heute, unter den Kuriosa deutscher Rückfälligkeit, bewegt mich nichts anderes als je zuvor. Nie war es so aktuell, sich jenseits von Zeitungs- und Autogerede ein Gehör für den höheren Sinn zu bewahren.“ In seiner Mansarde serviert uns Dieter zu den Klängen der WDR- Rocknacht geröstete Brötchen mit Zuckersirup. Gebannt folgen wir den Ausführungen des Naumburgers, der unablässig aus seiner Vergangenheit berichtet, die so gar nicht den vorgezeichneten Pfaden zwischen Krippe und Feierabendheim entsprechen will. Mitte der Siebziger konvertiert der Theologiestudent zum Katholizismus, woraufhin ihm die Landeskirchen das Examen verweigern. Was ihm bleibt, ist die Arbeit in Psychiatrie und Diakonie. Doch schon bald ist er den „Horror kirchlicher Arbeitsverhältnisse“ leid. Er bewirbt sich bei den „Nationalen Gedenkstätten für deutsche Literatur“ und leitet fortan Touristen durch das Goethe-Haus am Frauenplan in Weimar. Dieter schwört, daß er das Wesen Goethes besser erfaßt habe als „euer Reich-Ranicki. Der mag noch soviel gelesen haben. Der Werther und die Farbenlehre reichen aus, um diesen großartigen Dichter zu verstehen.“
Heute sitzt der knapp 40jährige auf einem „Vermittlungsposten“ als Pförtner an der Weimarer Musikhochschule und sieht es als sein persönliches Verdienst an, daß „die Wende dort so integer und gesittet abgelaufen ist“. Doch Dieter steht schon wieder vor dem Absprung. Er möchte sein „kirchenkontroverses Theologiestudium“ am Institut für Judaistik an der FU Berlin beenden.
In der Greifswalder Bachstraße lebte Dieter Anfang der Siebziger in einer der wenigen Wohngemeinschaften der Republik. Die Jahre, die er dort und wenig später in der alternativen Kneipenszene Jenas verbrachte, haben ihn geprägt. „Das war die Geburt meiner kulturellen Geselligkeit in Kollektiven.“ Die Ideale von damals gelten für ihn auch heute noch, und er will die Naumburger Villa nicht eher verlassen, bis die Stadt ihre Einwilligung zu einem „Kulturladen“ im Erdgeschoß gegeben hat. Hier will sich die kleine alternative Szene der Domstadt einen nichtkommerziellen Treffpunkt aufbauen können. Dafür würde Dieter sogar sein gesamtes Hab und Gut stiften.
Rot bis zu den Socken
„Früher hatten wir hier rote Socken an, ehrlich!“ Gunnar lacht. Der dreißigjährige LPG-Leiter aus dem mecklenburgischen Hohenbrünzow schaltet den Fernseher ein. „Ich bin ja selbst verblüfft, wie schnell ich mich gewandelt habe“, versichert er uns, während kleine Gremlins-Monster über den Bildschirm huschen. „Noch Anfang Oktober letzten Jahres wäre ich mit meiner Kampfgruppe nach Leipzig gefahren, um dort abzuräumen.“ Spät, sehr spät erst drang die Nachricht von der „Revolution“ in die nördliche Provinz. „Mecklenburg, erwache!“ schrieben damals die Sachsen mit Kreide auf die gen Norden fahrenden Züge.
Heute ist Gunnar froh, daß seine Belegschaft konservativ wählt, wenngleich er der PDS die Treue hält. „Jetzt können wir die soziale Marktwirtschaft durchprügeln. Als Leiter hab' ich es nun wesentlich leichter. Die Leute arbeiten jetzt zumindest sechs von acht Stunden.“
Gunnars vierjährige Tochter lugt durch den Türspalt. „Die Wende hat auch die Lütten manchmal ganz schön verwirrt. Eines Tages fragt mich Johanna, warum die jetzt alle so böse auf den Erich Honecker seien. Das war ja selbst für die Kleinen im Kindergarten eine Autorität.“ Der diplomierte Pflanzenproduzent war zunächst sprachlos. „Ich habe ihr dann gesagt, der Erich hat immer verkündet, ihr sollt sparsam sein und teilen, und er selbst hat gelebt wie ein König.“ Woraufhin Johanna prompt entgegnete: „Wieso? Er war doch der König!“
Zum Abschied drückt uns Gunnar ein blau-weißes Emailleschild in die Hand. „Diese Tafeln gab es im Bezirk Neubrandenburg wie Sand am Meer. Das hier hing bei uns über dem Eingang zur Sauenanlage.“ Unser Gastgeber vermutet, daß man im Westen für dieses Souvenir noch eine Verwendung finden wird. Recht hat er. Wir sehen das Schild schon bei uns zu Hause in der Küche hängen: „Anerkannter Bereich vorbildlicher Ordnung, Sicherheit, Sauberkeit und Disziplin“.
Als wir die Räder aus der Scheune schieben, nimmt uns Gunnar noch einmal zur Seite. Er hätte sich gewünscht, daß die DDR samt ihrer Bewohner kurz vor dem Mauerbau in ein Raumschiff gesteckt worden wäre. „Für fünf Jahre ab ins All — so, wie sie damals war. Es hätte mich brennend interessiert, was aus diesem Land geworden wäre — so ganz auf sich allein gestellt.“
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