„Man kann ja nur hoffen“

■ Was hat sich für Menschen in der DDR im letzten Jahr verändert und wie verarbeiten sie diese Veränderungen? Heike Tondasch gehört zu denen, die—trotz einiger Skepsis— den Vereinigungsprozeß begrüßen. Sie ist 28 Jahre, und — wie sie sagt — „Koch“ in einer Kindereinrichtung. Heike Tondasch ist eine der vielen alleinerziehenden, berufstätigen Mütter in der DDR. Sie lebt mit ihren zwei Kindern in der Ostberliner Trabantenstadt Mahrzahn. Ihre Wohnung ist schon mit einer Schrankwand neu möbliert, und die Couchgrnitur von Quelle sollte eigentlich auch längst da sein.

taz: Frau Tondasch, was haben Sie am 9. November 1989 gemacht?

Heike Tondasch: Am 9. November habe ich gar nichts weiter gemacht, weil ich gar nicht mitbekommen habe, daß da was passiert. Das hier ist ja eine zienmlich tote Ecke, da kriegt man nicht so viel mit, und auch mit Nachbarschaft spielt sich nicht viel ab. Da sagt man guten Tag und guten Weg. Von daher habe ich das erst am nächsten Morgen aus dem Radio erfahren. Ich bin dann früh auf Arbeit und habe meine Kollegin noch angestiftet: Du, bis achte sind die Grenzen offen, das können wir noch schaffen. Ich dann mit meiner Kollegin alles stehn und liegen gelassen und rüber. Bis die andern Kollegen treu und brav zu Arbeit erschienen, waren wir schon weg. Wir sind gleich zum Ku-Damm, wollten eigentlich nur mal rüber laufen. Aber dann sind wir erst am späten Nachmittag wieder zurück. Die Geschäfte da, das war schon umwerfend. Eine Auswahl! Jetzt hat das schon etwas gelitten, finde ich, mit diesen Billigläden, das Angebot ist nicht mehr so doll. Überhaupt jemals rüberzufahren, das hätte ich mir gar nicht erträumen können. Wir hatten ja keine Verwandschaft im Westen, und wenn das alles so weitergegangen wäre, hätte ich warten müssen, bis ich 60 bin.

Die Maueröffnung ist jetzt ein Jahr her. Hat sich für Sie ganz persönlich dadurch viel geändert?

Das ist schwierig zu sagen. Die Wohnung neu einzurichten, das hätte ich vorher bestimmt nicht geschafft. Aber arbeitsmäßig hat sich nicht viel geändert. Nur die üblichen Versammlungen sind weggefallen. Das ist wirklich angenehm. Und das Obstangebot ist jetzt natürlich reicher. Man kann den Kindern jetzt immer was anbieten, und dadurch macht die Arbeit ein bißchen mehr Spaß. Man versucht jetzt auch, immer das beste zu machen, weil etliche Kindereinrichtungen vielleicht mal wegfallen werden, und da strengt man sich mehr an, denn wir haben schon Bammel, daß die Kindereinrichtungen mehr und mehr mit Fertigessen versorgt werden. Und in dem Moment wären wir ja überflüssig.

Was ist das für ein Gefühl, wenn man nicht weiß, wie es beruflich weitergeht?

Noch mache ich mir da nicht so große Gedanken. Noch ist es nicht so weit. Wenn ich mir so die Zeitungsanzeigen angucke, dann ist ja auch eine große Nachfrage im Gaststättengewerbe und im Kochberuf. Da muß ich mir nicht so große Gedanken machen, arbeitslos zu sein. Das Problem ist nur, wenn ich im Westen arbeiten würde, da wäre der weite Weg zur Arbeit oder Schichtarbeit, das könnte ich ja nicht mit den Kindern. Natürlich redet man darüber auf Arbeit, daß man Bammel hat vor der Arbeitslosigkeit. Aber ob man da nun redet oder nicht. Man muß ja doch erst einmal abwarten, wie sich das nun alles entwickelt. Man selbst kann ja gar nichts weiter machen. Sorgen mach ich mir nur insoweit, wenn jetzt die Mietpreise ansteigen, das macht mir Bammel.

Hat sich Ihr Alltag seit der Grenzöffnung verändert.

Eigentlich nicht. Der alte Trott ist im Prinzip geblieben. Man macht das gleiche wie früher. Das einzige ist wirklich, wenn man einkaufen geht. Früher gab es immer nur das eine. Da mußte man eben das eine nehmen oder man ließ es sein. Heute muß man öfter nachdenken und gucken und Preise vergleichen. Wir haben hier draußen die eine Kaufhalle, und wenn ich jetzt vergleichen will, muß ich erst wieder radeln bis ich weiß nicht wohin. Das rentiert sich auch nicht immer.

Ist das manchmal auch lästig, daß man so viel Auswahl hat?

Lästig nicht richtig, nur in dem Sinn, daß die Gänge jetzt alle so voll sind und die Kaufhallen zu klein für das Angebot. Aber man hat ja drauf gewartet, daß das Angebot reichhaltiger ist. Man kennt ja auch schon einen Teil der Sachen aus der Werbung. Und da wissen die Kinder meist Bescheid, was was ist. Ich muß natürlich jetzt zu den Kindern öfter „nein“ sagen, wenn sie was haben wollen. Da muß man standhaft bleiben und ich muß ihnen jetzt auch mehr begreiflich machen, daß ich allein mit meinem Geld dastehe und es andere Familien gibt, wo zwei das Geld ranbingen. Aber die Kinder kriegen trotzdem jetzt mehr als früher. Im großen und ganzen komm ich damit ganz gut klar, auch wenn ich mir nicht alles leisten kann.

Früher bin ich auch öfter nach West-Berlin gefahren zum einkaufen. Aber in der letzten Zeit ist das doch wieder seltener geworden. Ich kann ja nicht so viel schleppen, und ich muß ja die Kinder mitnehmen, das nervt dann auch wieder. Auf der anderen Seite konnte ich mir jetzt all die Möbel kaufen. Früher hätte ich mir entweder nur eine Couch kaufen können oder eine Schrankwand. Jetzt ist das alles möglich, und wenn ich mir angucke, was ich in dem einen Jahr geschafft habe, dann bin ich auch stolz darauf. Ich hab in einem Jahr geschafft, wofür ich früher Jahre gebraucht hätte. Ein bißchen ist das schon so wie ein Neuanfang. Man kann sich für das Geld einfach mehr leisten. Allerdings weiß man ja nicht, wie das jetzt weiter geht, ob ich überhaupt noch was sparen kann.

Viele sagen, daß ihnen die Wiedervereinigung zu schnell ging.

Na, ja nun ist sie aber mal da. Das Schlimme ist nur, daß z.B. bei den ganzen sozialen Dingen, die man beantragen kann, jeden Tag ein anderer Vers in der Zeitung steht. Man weiß überhaupt nicht mehr, was stimmt. Man kann ja nur abwarten und mal sehen, wie man zurecht kommt. Man hat sich bisher ja auch nicht soo unwohl gefühlt in der Vergangenheit, sonst hätte man ja irgendwann doch mal einen Ausreiseantrag gestellt. Man hat ja doch gedacht: Wer weiß, was da drüben auf einen zukommt und ist dann lieber hiergeblieben. Hier wußte man doch, was man hat. Aber jetzt weiß man auch hier nicht, was kommt.

Gibt es auch Sachen aus der ehemaligen DDR, denen Sie so richtig nachtrauern?

Nachtrauern? Nee. Nur die sozialen Dinge, wo man wirklich die Sicherheit hatte. Der Haushaltstag und die Krankheitstage bei den Kindern, das waren doch gute Einrichtungen und ich versteh einfach nicht, warum so etwas nicht übernommen wurde. Irgendwie war es ja doch keine Vereinigung, sondern ein Anschluß. Bei einer Vereinigung hätte ich mir doch vorgestellt, daß man von beiden Seiten was einbringt. Aber bis jetzt ist es doch so, was Kohl sagt, wird gemacht, und alle trotteln hinterher. Ich hätte gern paar Sachen übernommen, die nicht schlecht waren. Daß man doch ein Recht auf Arbeit oder auf eine Wohnung hat. Man fragt sich doch, warum muß das nun alles so sein, wie es drüben ist. Bekannte von einer Kollegin haben neulich gesagt: Mensch, ihr seid doch dusselig. Warum laßt ihr euch das gefallen? Vielleicht steckt das noch zu sehr in uns drin, daß was die sagen auch gemacht wird. Irgendwie traben wir nun doch wieder alle in eine Richtung. Wir können nicht damit umgehen, daß man sich vielleicht zur Wehr setzen kann. Aber man kennt sich ja gar nicht aus, wie das abläuft.

Das ist ja nicht gerade ein angenehmes Gefühl, diese Unsicherheit. Schlafen Sie noch gut?

Doch schon. Das ist zwar kein angenehmes Gefühl, aber andererseits sagt man sich, woanders leben die Leute ja auch und die leben ja nicht schlecht, das isses ja! Von daher sagt man sich, warum sollen wir absacken, außer wenn die uns als Menschen zweiter, dritter Klasse behandeln wollen.

Ihr Sohn Daniel ruft „nie wieder Sozialismus“. Können Sie das unterschreiben.

In gewissem Sinn ja, denn das hat ja alles nicht geklappt, daß alle so im großen Kollektiv arbeiten und keiner so für sich wirtschaftet. Von daher stimmt das wohl schon.

Leben besteht ja nicht nur aus den Dingen, die man kaufen kann. Empfinden Sie denn auch ein Gefühl von Freiheit, genießen Sie die Bewegungsfreiheit?

Ich fahr ja nicht viel rum. Wie soll das gehen mit den Kindern? Was ich gern mal machen würde, ohne die Kinder, wär mal ein Wochenende nach Paris fahren.

Wenn sie jetzt am Wochenende mal etwas Zeit haben, machen Sie da andere Dinge als früher?

Eigentlich nicht. Mit den Kindern bleibe ich doch meist hier in der Nähe. Was soll ich da an den Wannsee fahren. Großartig weg waren wir bisher nicht.

Einige Leute zweifeln, ob nun wirklich alles besser wird. Sind sie eher pessimistisch oder optimistisch?

Man hofft ja doch. Man muß ja hoffen, weil man kann nur abwarten. Viele sagen, daß man früher doch ruhiger gelebt hat. Das stimmt sicher. Dieser Trubel jetzt und dann die Randale, wie auf dem Alex neulich. So was kannte man ja vorher nicht. Und das macht schon Angst. Wenn mir da abends so eine Gruppe, Punks oder wie die heißen, entgegenkommen würde, dann würd ich schon das Rennen kriegen. Vorher war auch nie diese Angst da, daß man seinen Arbeitsplatz verlieren könnte. Wenn meine Kinder krank waren, habe ich eine bezahlte Freistellung gekriegt. Und jetzt steh ich auf einmal vor der Tatsache, daß mein Kind nur fünf Tage im Jahr krank sein darf, ansonsten krieg ich kein Gehalt, nüscht! Und es gibt so viele Dinge, die man jetzt lernen muß: Das fängt bei der Steuerkarte an oder daß man sich eine Krankenkasse oder eine Bank aussuchen kann. Jetzt muß man plötzlich entscheiden, wer bietet das beste, und ich finde, da hat man uns doch ganz schön reingeschmissen: So, jetzt seht mal zu, jetzt macht mal. Wir haben doch gar keine Erfahrung damit. Ich sitzt da mit meiner Steuerkarte und kann damit nix anfangen.

Hat sich das Klima am Arbeitsplatz oder unter Freunden verändert? Redet man jetzt anders miteinander?

Wenn man richtige Freunde hatte, hat man vorher auch schon offen geredet. Wo man jetzt wirklich offener ist, das ist auf der Arbeit. Da kann man jetzt wirklich sagen, was man denkt, und die Leiterin kann jetzt nicht mehr bestimmen: so wird's gemacht. Man macht nicht mehr so auf Drückeberger wie früher, nur nicht auffallen und so. Man fühlt sich doch ein bißchen stärker. Auf der anderen Seite hört man jetzt so Andeutungen: Wer zuerst aufmuckt, der geht als erster. Aber ich bilde mir ein, daß kann jetzt eine Person, die Leiterin, nicht mehr allein entscheiden. Nur daß man nun die Angst hat, wenn die Planstellen gekürzt werden: Wer bleibt, wer muß gehen? Aber daß man sich deswegen gegenseitig in die Pfanne haut, das gibt es bei uns nicht.

Die DDR war ja bisher ihre Heimat. Gefällt Ihnen der Westen eigentlich so richtig, daß sie sich in einer solchen Umgebung zu Hause fühlen?

Ich kenne ja nur West-Berlin, und das ist vielleicht nicht der richtige Vergleich. Ich finde schon, daß West-Berlin ganz schön verkommen ist. Als wir jetzt mal in Österreich waren, da sahen die Dörfer doch unwahrscheinlich gut aus. Da stand nirgendwo ein Trecker in der Gegend oder niemand lief mit Pampe an den Gummistiefeln rum. Da war alles so sauber und so gepflegt. Und deshalb bilde ich mir ein, daß es in Westdeutschland vielleicht auch schöner ist als in Berlin.

Und die Menschen, kommen Sie mit denen klar?

Ich kenn ja keine Westberliner privat. Ich fand nur, daß die Verkäuferinnen nach der Maueröffnung sehr viel freundlicher waren. Diese Freundlichkeit hat doch nachgelassen. Man hört viele Leute im Westen fluchen über die Maueröffnung, und das kränkt einen schon, denn ich habe mich doch gefreut, daß wir jetzt rüber können. Insofern ist man froh, wenn man wieder zu Hause ist in den eigenen vier Wänden. Der Westen ist doch ganz schön fremd. Häufig spürt man auch, daß man als Mensch zweiter Klasse angesehen wird. Wenn z.B. der Möbelträger kommt und so tut, hier kommt der gute Wessi und ich bring der armen Ossi jetzt endlich mal was. Das tut schon weh, so schief angeguckt zu werden.

Haben Sie mal mit dem Gedanken gespielt, es wäre besser, die Mauer wäre wieder zu?

Nee, rückgängig machen möchte ich das nicht. Aber man kann immer nur hoffen, daß das, was Kohl sagt, daß es uns allen irgendwann mal besser geht, daß die das auch hinkriegen.

Haben Sie das Gefühl, Sie können dafür irgendetwas tun?

Nein, eigentlich nicht, als einzelner schon gar nicht. Man müßte viellicht wirklich jemanden oder eine Gruppe finden, die einige Ideale vertritt, aber ich weiß nicht, wo die ist. Jede Gruppe oder Partei hat von jedem etwas. Wenn ich mir überlege, wer mir da in politischer Hinsicht am nächsten steht, dann find ich: da steht mir eigentlich niemand so richtig nah. Man kann ja nur hoffen, daß die das irgendwie hinkriegen.

Denken Sie manchmal auch über die Vergangenheit nach? Ob Sie nicht auch Fehler gemacht haben, sich ein bißchen mehr zu Wehr hätten setzen können?

Fehler? Nein, man ist hier ja so aufgewachsen. Und die, die den Mund aufgemacht haben, die konnten ja auch nicht lange was sagen, dann waren sie weg. Außerdem hat man ja doch an das geglaubt, was sie einem in der Schule gepredigt haben: Da ist der Feind und hier ist der Freund. Für mich war ja auch die Mauer der Schutzwall vor dem bösen Kapitalismus, vor Drogen, Arbeitslosigkeit und Obdachlosen. Natürlich kam man ins Zweifeln, aber man hat es doch gar nicht so mitbekommen. Irgendwie wollte man es auch nicht so richtig wahrhaben, was da passiert ist, daß die da oben ihre Häuser hatten und andere in den Bau abgewandert sind, weil sie einen Ausreiseantrag gestellt haben. Heute bin ich eher wütend darüber, daß wir so behumst wurden.

Führt das auch dazu, daß Sie vorsichtiger geworden sind, was Sie überhaupt noch glauben können?

Man ist schon etwas skeptischer geworden gegenüber all dem, was die Politiker jetzt versprechen. Man hat nicht viel Lust, sich mit Politik zu befassen. Ich hör' Nachrichten, aber das ist es dann schon.

Haben Sie irgendwelche Träume?

So direkt nicht. Mein nächstes Ziel ist, daß die Wohnung gut eingerichtet ist und der Rest noch renoviert wird. Ich würde schon ganz gern mal nach Spanien oder in eines der Länder, die noch erschwinglich sind. Nur im Moment hofft man ja, daß man überhaupt noch einmal Urlaub machen kann. Man weiß ja nicht, was beruflich passiert. Interview: Vera Gaserow