What is left?

■ Thesen zur Identitätsdebatte der Linken DOKUMENTATION

IWir erleben gegenwärtig nicht nur das Ende des „realen Sozialismus“ als einer spezifischen Herrschaftsform, sondern das Ende des Sozialismus als einer geschichtsmächtigen Idee in Europa. In Zukunft geht es um Ökologie, Feminismus, Bürgerdemokratie und soziale Grundrechte, aber das bündelt sich nicht mehr in der Leitidee „Sozialismus“. Weniger spektakulär, aber ebenso vielsagend wie der Zusammenbruch des Staatssozialismus im Osten ist das Versanden des Eurokommunismus im Westen. Die kommunistischen Massenparteien Westeuropas, die sich auf den Prozeß der Selbstkritik und Selbstveränderung eingelassen haben, wurden sozialdemokratisch. Auf diesem Weg ist auch die PDS, falls die ideellen und finanziellen Altlasten überhaupt einen Erneuerungsprozeß zulassen. „Sozialismus“ ist für sie keine alternative Gesellschaftsformation mehr, sondern die Proklamation demokratischer und sozialer Reformen auf kapitalistischer Grundlage: „Das Ziel ist nichts, der Weg ist alles.“

IIWas bleibt vom realen Sozialismus? Wer den Tatsachen ins Auge blickt, sieht Massengräber und demoralisierte Gesellschaften, wirtschaftlichen Ruin und ökologische Zerstörung. Je vollständiger die kommunistischen Parteien sich die Gesellschaft unterwerfen konnten und ihre Autonomie zerstörten, desto schlimmer ist die Verwüstung, die sie hinterlassen, am schlimmsten in der Sowjetunion und in Rumänien. Was jetzt in Osteuropa an aggressivem Nationalismus hochkocht, an Antisemitismus, Korruption und sozialer Rücksichtslosigkeit, bringt nur zutage, was bisher unter der sozialistischen Oberfläche konserviert und genährt wurde.

IIIAuch die kritische Linke, die mit der Sowjetunion nichts am Hut hatte, bleibt nicht im Stand der Unschuld. Wenn es gutging, wurde von ihr die „Renegatenliteratur“ aus den 30er und 40er Jahren privat konsumiert, aber ich kann mich nicht erinnern, daß die Zeugnisse von Manes Sperber oder Arthur Koestler eine ähnlich bohrende, selbstkritische Diskussion im mainstream der bundesdeutschen Linken ausgelöst hätte wie etwa unter den 68er-Linken in Frankreich, von Solschenizyn und dem „Archipel Gulag“ ganz zu schweigen. Das liegt nicht nur an der Falle des „Systemgegensatzes“, in der der radikale Bruch mit dem Kommunismus unweigerlich in die Arme des realen Kapitalismus führt. Es gab auch eine Abwehr vor den grauenhaften Wahrheiten, vor der Desillusionierung, die aus diesen Texten spricht. Am sympathischsten waren uns immer die tragischen Oppositionellen, die Luxemburg, Trotzki, Bucharin, Dubcek, weil sie uns erlaubten, die Hoffnung auf einen anderen, humanen Sozialismus aufrechtzuerhalten. Diese Hoffnung machte uns teilblind. Nicht nur gegenüber den historischen Schrecken des revolutionären Sozialismus, sondern auch gegenüber den Schrecken seiner Gegenwart.

IVDer Uranabbau in der DDR hat sich fast vor unserer Haustür abgespielt, 12.000 Quadratkilometer verseuchte Landschaft, Tausende, die den Rohstoff für die sowjetischen Atombomben mit ihrem Leben bezahlten. War nur ich blind, oder hat sich der allergrößte Teil der bundesdeutschen Linken dafür nicht sehr interessiert? Sicher waren die Informationsquellen schwer zugänglich, aber in diesem Nicht-Wissen steckt auch ein Stück Nicht-Wissen-Wollen.

VWie sehr die verheerende Bilanz des realen Sozialismus auch auf die kritische Linke im Westen abstrahlt, zeigt sich auch daran, daß es niemandem mehr gelingt, eine sozialistische Utopie zu formulieren, die über fromme Absichten hinausgeht. Der Alptraum hat den Traum gefressen.

Wir können nicht mehr in der Tradition revolutionärer Heilserwartungen denken und reden. Das chronisch gute Gewissen der Linken, prinzipiell auf der „richtigen Seite“ zu stehen und das Gute gegen das Böse zu vertreten, ist historisch unhaltbar. Toleranz und Pluralismus sind keine Zugeständnisse an den Gegner mehr, sondern Konsequenz aus der schrecklichen Erfahrung, wohin eine Politik der absoluten Wahrheiten führt.

Das gleiche gilt für die Absage an das Modell von Politik als Bürgerkrieg. Der Zweck heiligt eben nicht die Mittel. Rechtsstaat, Gewaltenteilung, bürgerliche Grundrechte und politischer Pluralismus sind Grundbedingungen einer zivilen Gesellschaft.

VIEs geht also nicht nur um andere Inhalte, sondern um eine andere Art des Politik-Machens. Was wir für den Umgang mit der Natur reklamieren, muß auch für unsere Gesellschaftspolitik gelten: Fehlerfreundlichkeit und Reversibilität, Abkehr vom politischen Machbarkeitswahn und der umfassenden Planbarkeit komplexer Prozesse. Die Zeit der gesellschaftlichen Globalalternativen, die am Reißbrett der politischen Avantgarden entworfen werden, ist vorbei. Das ist kein Plädoyer für den Status quo, sondern für Evolution und Dialog als Zentralbegriff einer anderen Politik. Daraus folgt übrigens auch eine andere Bewertung von Plan und Markt als Formen ökonomischer Vergesellschaftung: der Versuch, den Markt durch umfassende staatliche Planung zu ersetzen, ist Teil der Machbarkeitsillusion der Gesellschaftsingenieure.

VIIDer Versuch, die neuen sozialen Bewegungen — Ökologie, Feminismus, Bürgerrechte — als Jungbrunnen des Sozialismus zu benutzen, hat etwas Vampiristisches. Sie sind nicht aus der linken Tradition entstanden, und sie mußten sich zum gut Teil gegen den linken Monopolanspruch behaupten. Ich erinnere an die Debatte um die „Grenzen des Wachstums“ oder die Frauenfrage als „Nebenwiderspruch“.

Das Eigentümliche dieser neuen Denk- und Politikansätze ist gerade, daß sie quer zum gewohnten Links- rechts-Schema liegen. Das beharrliche Praktizieren und Einfordern von Bürgerrechten war die Form, in der sich die Opposition gegen den realen Sozialismus entwickelte. Und im Zentrum ökologischer Politik stehen „grenzüberschreitende“ Themen und Begriffe: Kritik des Fortschrittsmythos und des Machbarkeitswahns, industrielle Selbstbegrenzung, Dezentralität und Region, das Prinzip Verantwortung. Es ist wahr, daß sich ökologische Politik der expansiven und zerstörerischen Logik des Kapitals widersetzen muß. Aber ebenso wahr ist, daß sie nicht darauf reduziert werden kann.

VIIIKein Zufall, daß diese neuen Bewegungen sich allesamt nicht mehr auf ein „Klassensubjekt“ beziehen. Klassenkampf war aber die zentrale Achse linker Politik. Auch damit ist es vorbei. Es gibt ihn noch, den Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital, aber er ist nicht mehr der Dreh- und Angelpunkt verändernder Politik. Die neuen Bewegungen definieren sich nicht mehr primär durch den sozialen Status, sondern durch gemeinsame Gefahrenabwehr, gemeinsame Werte und politische Ziele. Sie sind gerade dann erfolgreich, wenn es ihnen gelingt, Bündnisse quer zu den tradierten sozialen und politischen Lagern zu bilden — das gilt für den Konflikt um den Paragraphen 218 wie für den Ausstieg aus der Atomenergie oder den Protest gegen den Autowahn.

IXDer Dualismus zwischen Kapitalismus und Sozialismus, links und rechts war eine perfekte Falle. Für das eine oder für das andere, tertium non datur. Es ist die Angst „rechts“ zu werden, die viele an ihrem Linkssein festhalten läßt, auch wenn „links“ nicht mehr viel mehr ist als ein diffuses Weltgefühl. Erst wenn wir diese Falle verlassen, gewinnen wir unsere politische Souveränität zurück. Das Ende des Sozialismus zu konstatieren, ist kein Persilschein für den realen Kapitalismus. Dessen Sieg über seinen Systemrivalen ist ein Phyrrussieg — weiter so, und wir sind verloren. Wir müssen nur die Kluft beobachten, die zwischen dem allgemeingültigen Wissen um Treibhauseffekt und Ozonloch einerseits, dem ökonomischen und politischen, öffentlichen und privaten „Weiter so“ auf der anderen Seite besteht.

Ökologie ist für die kapitalistische Industriegesellschaft eine radikalere Herausforderung, als es der Sozialismus jemals war. In der politischen Grammatik des 19. Jahrhunderts werden wir die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht bewältigen. Ralf Fücks

Der Autor lebt in Bremen und ist Bundestagskandidat der Grünen. Die Thesen, die hier leicht gekürzt wiedergegeben sind, hat er auf einer Veranstaltung in Bremen über eine linke Identitätsdebatte am 6. November vorgetragen.