Lehrer Mayer trifft Schülerin Wolf

■ Literaturschicksale in der Reihe »Nachdenken über Deutschland« in der Staatsoper diskutiert/ Christa Wolf meldet sich zurück im Literatenstreit/ Hans Mayer nimmt sie vehement in Schutz

Berlin. Christa Wolf hat ihre Sprache wiedergefunden. Seit dem Ende der DDR in manchen westdeutschen Feuilletons arg gebeutelt, schien die Autorin zunächst wenig Lust zu verspüren, an die Öffentlichkeit zu treten. Jetzt meldet sie sich wieder verstärkt zu Wort, durchaus selbstbewußt, bei aller Selbstkritik. Sie hat »gelernt, den Begriff Niederlage zu relativieren, denn manchmal kann ein Verlierer mehr sehen als ein Sieger«, sagte sie gestern in der Deutschen Staatsoper Unter den Linden lin bei der Einführung von Hans Mayer, ihrem Leipziger Lehrer der Literaturwissenschaft, der, das Thema der Veranstaltungsreihe »Nachdenken über Deutschland« variierend, über »Deutsche Literatur hier und heute« sprach.

Christa Wolf sah in dem Auftreten des 83jährigen »Deutschen auf Widerruf« mit einem wechselvollen Leben zwischen Heimat und Exil, West und Ost, der einmal sagte, es sei »keine Freude« gewesen, 1945 nach Deutschland zurückzukommen, nicht nur einen »symbolhaften Augenblick«, sondern sprach auch von »Treue und Freundschaft« in diesen Tagen des Umbruchs. Sie erinnerte an die Vorlesungen aus Leipziger Studententagen bei ihrem Lehrer Hans Mayer und seinen Weggang 1963 aus der damaligen DDR.

»Wir wußten alle, daß wir als Verlierer antraten«, meinte sie über sich und ihre Schriftstellerkollegen zu dem von ihnen erhofften und ersehnten Neubeginn in der DDR. »40 Jahre zu spät müssen wir noch einmal das Mißtrauen gegenüber jeder Heilserwartung lernen.« Und weiter: »Scharf sind wir nicht gerade darauf, den Ursachen der deutschen Misere bis zu ihren Wurzeln nachzugehen.«

Aber: »Wir haben ein kritisches Bewußtsein miterzeugt, auch wenn uns das aus durchschaubarer Absicht jetzt bestritten oder gar ins Gegenteil verkehrt wird.« Es habe Bücher gegeben, »die wie Taten waren« und es gebe eine »Identität jener, die sich gewehrt haben«. Doch die Hoffnungen hätten sich nicht erfüllt. »Keineswegs leichter trägt man die Folgen von Fehlentwicklungen, wenn man selbst vor ihnen gewarnt hat.«

Mayer nannte Christa Wolf eine Repräsentantin jener »Gegenliteratur«, die erst in den 60er Jahren in der DDR entstanden sei, nachdem die Literatur dort zuvor nur das geschrieben habe, was man von ihr erwartete. »Zugespitzt gesagt: In der DDR entstand zunächst eine Literatur der Kommunisten und der Sympathisanten, der ‘fellow travellers‚, von Autoren, die den Marxismus in ihrem Schaffen aufnahmen.« Die Literatur sei dort lange Zeit eine »importierte und oktroyierte Literatur« gewesen. Eine neue Literatur sei dann »mit ihrem Leiden an der DDR« entstanden und in dem Maße, wie sie »ihre Kraft zum Widerstand wiedergefunden hat«, habe diese Literatur auch stark in die BRD hineingewirkt. Mayer nannte in diesem Zusammenhang auch Günter de Bruyn, Christoph Hein und Volker Braun.

Ein Leitmotiv in der deutschen Literatur sieht Mayer in einem »deutschen Selbsthaß der Schriftsteller«, ihrem »Leiden an Deutschland«. Mayer sprach von einer »Pressekampagne« gegen Christa Wolf, die als »Staatsdichterin und ähnlichem Unsinn« diffamiert werde. »Die Bedeutung ihres Werkes in der literarischen Welt ist ganz außerordentlich und irgendein Geschreibsel von irgendwem, woraus auch immer motiviert, sollte daran keinen Zweifel lassen«, sagte ihr Lehrer unter starkem Beifall im überfüllten Apollo-Saal der Oper. »Gesiegt hat unter vielen Verlusten immer die Literatur.« Wilfried Mommert (dpa)