„Die Allianz des Schweigens“

■ Das Komitee Amcha veranstaltete in Ost-Berlin ein internationales Symposium über die Spätfolgen des Nazi-Terrors/ Das Schweigen als psychologische Folge der „Strafe, zum Leben verurteilt zu werden“

Berlin (taz) — „Amcha“ ist Armäisch und bedeutet „Einer aus dem Volke“. Während der Zeit der großen Verfolgung in Deutschland war „Amcha“ ein Erkennungswort, ein Geheimcode unter den untergetauchten Juden. „Amcha“ ist seit einigen Jahren wieder ein Schlüsselwort. Heute steht es nicht mehr für Konspiration und Schweigen, sondern für Öffentlichkeit und Sprache.

Die Organisation Amcha hilft den Überlebenden des Holocaust in Israel, das Schweigen zu brechen und über das Erlebte zu sprechen. Unterstützt wird Amcha Israel von einem Komitee, das letztes Jahr in der DDR gegründet wurde. Noch kurz vor der Währungsunion überwies die Maizière-Regierung an die Amcha 6,2 Mio. Mark. Mit den Zinsen dieses Stiftungsvermögens wird seitdem die psychosoziale Arbeit in Israel unterstützt. Die Bundesregierung hat bisher mit Hinweis auf das Bundesentschädigungsgesetz finanzielle Hilfe abgelehnt. Anläßlich des Gedenkens an die Reichspogromnacht hat das Amcha-Komitee am Sonntag in Zusammenarbeit mit der Berliner Humboldt-Universität ein internationales wissenschaftliches Symposium über die „Spätfolgen bei Opfern des Nazi-Terrors“ abgehalten.

In Israel gibt es noch rund 200.000 Menschen, die den Konzentrationslagern entkommen sind. Jeder vierte von ihnen, schätzt Haim Dasberg, ein klinischer Psychiater aus Israel, Mitbegründer und einer der Vorsitzenden von Amcha, braucht dringend psychosoziale Hilfe. Dasberg war einer der vier Referenten, die über die bis heute anhaltenden schweren seelischen Schäden von Überlebenden der Konzentrationslager informierten. Das Thema Menschenvernichtung in der Nazizeit, so Dasberg, ist für die israelische Gesellschaft und für die Überlebenden sowie deren Familien ein so schmerzliches Thema, daß beide Seiten bis heute nicht anerkennen können, welche Spuren die Nazizeit in ihnen hinterläßt. Viele Überlebende leiden täglich unter den Erfahrungen von damals und schweigen darüber. Sie umgibt eine „Mauer des Stillschweigens“, und sie haben jahrzehntelang an dieser „Mauer des Schweigens“ mitgebaut. Sie haben sich angepaßt an das „normale Leben“, sie „funktionieren“, obwohl viele von ihnen schwerste emotionale Störungen haben. Sie leiden unter traumatischen Schlagstörungen, Alpträumen, chronischen körperlichen Krankheiten, außergewöhnlicher Nervosität, schweren Depressionen und psychosomatischen Problemen. Dasberg bezeichnete dieses Schweigen als die psychologische Folge der „Strafe, zum Leben verurteilt worden zu sein“.

Auch die deutsche Gesellschaft verleugnet bis heute die psychischen Folgen des Nazi-Terrors, um sich, wie Dasberg meint, „vor schmerzhaften Erkenntnissen zu schützen“. Besonders fatal sei dieses Schweigen, wenn deutsche Ärzte und Psychotherapeuten sich in diese „Allianz des Schweigens“ einordnen. Weil laut Bundesentschädigungsgesetz Gutachter über den Grad der während der Nazizeit erfolgten „Schäden an Körper und Gesundheit“ entscheiden und auch die Spätfolgen in sogenannten „Verschlimmerungsanträgen“ bewerten, müßten die Ärtze über die wissenschaftlichen Untersuchungen zu den Spätfolgen informiert werden.

„In der Psyche der KZ-Opfer lebt das KZ“, sagte Dasberg, „mehr noch, die krankmachenden Strukturen leben auch in den Kindern und Enkeln weiter.“ Immer mehr Angehörige der sogenannten „Zweiten Generation“ müssen in Israel therapiert werden. Sowohl in Israel als auch in den USA rücken immer mehr die Untersuchungen über die psychologischen und klinischen Spätfolgen von Kindern, die im KZ versteckt oder mit falscher Identität überlebt haben, in den Mittelpunkt des Interesses. Judith Kestenberg, eine Repräsentatin der „Wiener“ Psycholanalyse, aber seit 1937 mit amerikanischem Paß, arbeitet seit 20 Jahren mit diesen überlebenden Kindern und hat 1981 eine Selbsthilfegruppe initiiert. „In dem Maße“, sagt sie, „wie es gelingt, sich selbst zu heilen, in dem Maße ist es ein Triumph über Hitler.“ Im nächsten Jahr wird in Amsterdam erstmalig ein „Internationales Treffen untergetauchter Kinder“ stattfinden. aku