Der Freie Fall in den Frühkapitalismus

Frauen aus Ost und West diskutierten auf Initiative der schleswig-holsteinischen Frauenministerin „ohne Grenzen“ und stoßen auf alte und neue Mauern  ■ Von Christine Weber-Herfort

Es ist gut gemeint. Die Fachfrauen aus Politik und Gewerkschaft, die Wissenschaftlerinnen und die autonomen Frauen aus den 43 Frauenhäusern in Schleswig-Holstein greifen ihren Schwestern in Mecklenburg-Vorpommern unter die Arme. Die Frauenministerin Gisela Böhrk organisiert einen Kongreß, der zur inneren und äußeren Grenzüberschreitung auffordert: „Frauen ohne Grenzen“, so das Motto. Über 800 Frauen kommen, 650 davon aus Mecklenburg-Vorpommern und den übrigen neuen Bundesländern. Sie stehen um Rat und Hilfe an am letzten Samstag in Güstrow.

Wo bleiben unsere Kinder? Wie setze ich Fraueninteressen im Betrieb durch (wenn ich noch einen Betrieb habe und nicht ausgemustert bin)? Wie mache ich mich selbständig (wenn ich schon ausgemustert bin)? Wie wehre ich mich gegen Männergewalt? Fragen, so scheint es, die Ost- und Westfrauen gleichermaßen unter den Nägeln brennen.

Die Situation der Kinder zieht sich durch alle Bereiche. Kinder leiden unter der zunehmenden Gewalt in Deutschland-Ost — hervorgerufen durch die großen sozialen Probleme. Kinder verlieren ihre gewohnte Umgebung im Kindergarten oder Hort, weil Mütter die gestiegenen Essensbeiträge nicht mehr aufbringen können. Mütter melden die Kinder bei Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit in den Kindergärten ab. Die Einrichtungen leeren sich, und die Verwaltung kommt aus „Sachzwang“ nicht daran vorbei, die Kinderunterbringungsstätten zu schließen. Bis Mitte 1991 hat die Bundesregierung noch einen Zuschuß für den Erhalt der Kinderunterbringung versprochen, danach ist auch dieses Problem im Ost mit dem in West vereinigt.

Gemeinsamkeiten zwischen Frauen aus Ost und West zeigte sich auf der Konferenz beim Schwangerschaftsberatungsgesetz. Ersatzlose Streichung des Paragraphen 218, eine qualifizierte Beratung, jedoch kein Beratungszwang; diese Forderung erscheint konsensfähig auch über Parteien und Grenzen hinweg. Nicht so die Quote. Die stößt auf Ablehnung bei den Frauen in Deutschland-Ost. „Wir Frauen wollen nichts geschenkt“, heißt es. Das Problem wird nicht ausdiskutiert, denn die Frauen aus Deutschland-Ost verstummen sofort nach Einwürfen, die wie Belehrungen daherkommen.

Beim zentralen Problem, drohende oder bereits bestehende Arbeitslosigkeit und was dagegen getan werden kann, zeigen sich die Grenzen und Mauern noch immer deutlich. Was tun gegen die massenhafte Abqualifizierung? Die Frauen im Osten waren — zumindest formal — oft besser gebildet als die im Westen. Jetzt wird der Ingenieurin die Schlosserstelle, der Sekretärin die Putzfrauenstelle angeboten. Was tun, wenn Frauen, die jahrzehntelang in der Verwaltung gearbeitet haben, jetzt einen neuen Dienstherrn vorgesetzt bekommen, der ihre erworbenen Ansprüche nicht akzeptiert? Wo bleibt das Recht, wenn frau es nicht einklagen kann? Die Ostfrauen sollen sich „einen Gewerkschafter krallen“, sich an die Juristen wenden, heißt es von den Frauen aus dem Westen. Ein billiger Rat, wo die Strukturen fehlen.

Beim Thema „Gewalt gegen Frauen“ wird die innere Grenze zwischen Ost und West deutlich, knistert Spannung, kommen Aggressionen hoch. Daß wir Frauen zuerst bei uns anfangen sollten mit der Fehlersuche, daß wir schließlich für die Kindererziehung verantwortlich sind, daß wir noch immer keinen Nagel gerade in die Wand schlagen können — diese Argumente aus Ost treffen die Schmerzgrenze der Westfrauen. Sagt eine aus Ost „ich bin Diplomjurist“, schallt es aus West „Juristin“. Sagt eine „Gott sei Dank“, tönt es sofort „Göttin“ (oh Himmel!) zurück. „Ich hab das Gefühl, daß die Ostfrauen mich überhaupt nicht verstehen. Die argumentieren wie meine Mutter, die sind obrigkeitsfixiert“, heißt es in einem Flurgespräch.

„Wir“ — so wird es von einer Frau aus Güstrow formuliert — „stehen vor einem Scherbenhaufen. Alles ist zusammengestürzt. Das Schlechte und das Gute. Es gibt keine Bespitzelung mehr. Das ist gut. Es gibt Reisefreiheit. Auch gut, aber ich habe kein Geld für eine Reise; denn ich habe keine Arbeit mehr. Und das Schlimme ist, daß uns dadurch das Selbstwertgefühl verloren geht. Wir haben keine Orientierung mehr. Alle rennen auseinander und suchen die Schuld bei sich.“

Die Ostfrauen befinden sich im freien Fall. Sie sind — da sind sich alle Konferenzteilnehmerinnen einig — im Stadium des Frühkapitalismus gelandet und durch die Maschen des sozialen Netzes geflutscht. Unten, wo sie einen Boden vermuten, stehen nicht nur Männer, da stehen auch Frauen aus dem Westen. Mit einer Jutetasche voll Papier: Kündigungsschutzgesetze, Tarifverträge, Rationalisierungsschutzabkommen, Frauenförderplänen, Existenzgründungsbroschüren. Und Ratschlägen im Kopf, die als Rat gemeint sind, jedoch wie Schläge wirken.

Nach(-barschafts)-hilfe, frauenpolitische Aufbauarbeit, Know-how aller Art ist im Angebot. Westfrauen haben viel zu bieten: Selbst- und Sendungsbewußtsein, Konfliktfähigkeit, Durchsetzungsvermögen im Umgang mit Presse, Juristen. Und wenn ihnen nicht geholfen wird, dann helfen sie sich selbst. Sagen sie zumindest.

Er war gut gemeint, der Frauenkongreß in Güstrow. Es werden sich kleine Netzwerke bilden, an denen sich Frauen aus Ost und West aufrichten können. Es kam dabei jedoch zutage, daß die Mauern höher sind als vermutet. Und neue kommen dazu. Sie werden gebaut aus Ungeduld, Arroganz, Verständnislosigkeit.