Die Zeit arbeitet auch gegen mittlere Chemiebetriebe

Bisher wurde ein drastischer Arbeitsplatzabbau verhindert — nun droht er im kommenden Jahr/ Treuhand zu langsam und Manager überfordert  ■ Von Martin Kempe

Grundsätzlich, so hat die Treuhandanstalt kürzlich festgestellt, sei die Lacufa AG Berlin sanierungsfähig. Aber ob die 1.030 (Stand Oktober) Beschäftigten des Lacke und Farben produzierenden Unternehmens auch noch im nächsten Jahr ihrer Arbeit nachgehen werden, ist völlig offen. Denn das dringend benötigte Sanierungskonzept liegt noch nicht vor. Bisher sind nur rund 170 Arbeitsplätze durch Vorruhestand, erste Entlassungen und Kurzarbeit abgebaut worden. Aber schon jetzt ist sicher, daß es dabei nicht bleibt. Die Zeit drängt. „Wenn nicht schnell ein durchgreifendes Sanierungskonzept umgesetzt wird“, so schreibt die zuständige Industriegewerkschaft Chemie, sind alle 1.030 Arbeitsplätze in Gefahr.

Bei der Lacufa gibt es Verhandlungen mit möglichen Kooperationspartnern, unter anderem mit der Frankfurter Hoechst AG. Aber noch ist nichts entschieden. Das Schicksal des Betriebes und seiner Beschäftigten steht und fällt damit, daß möglichst schnell mit Kooperation und Sanierung begonnen werden kann.

Die Situation der Berliner Farbenfabrik ist typisch für viele Betriebe, besonders die Chemiebranche, in den Ländern der ehemaligen DDR. Die bisherigen Entlassungen in der Chemieindustrie in den fünf neuen Bundesländern und Ost-Berlin liegen je nach Betrieb zwischen zehn und dreißig Prozent. „Ein drastischer Arbeitsplatzabbau in den Großunternehmen“, stellt die IG Chemie in einem Papier fest, „konnte bisher weitgehend vermieden werden“. Aber die Problembranche mit ihren krassen Umweltproblemen wird um drastische Einschnitte auch bei der Beschäftigung kaum herumkommen.

Allein für das kommende Jahr befürchtet die Chemiegewerkschaft einen Arbeitsplatzabbau von 20 bis 30 Prozent, „in Einzelfällen sogar mehr als 50 Prozent“. So zum Beispiel im Reifenwerk Pneumant in Fürstenwalde, das bisher Trabi und Wartburg ausgerüstet hat und mit diesen zusammen ins Abseits zu rollen droht. Anfang 1990 waren bei Pneumant noch 4.800 Menschen beschäftigt. Im Oktober waren es, dank Vorruhestand, Ausgliederung von Betriebsteilen und durch Entlassung der im Werk beschäftigen Ausländer, nur noch 3.200. Als „Zielgröße“ peilen die Reifenhersteller eine Belegschaftsstärke von 2.500 an. Aber die Aussichten, diese Belegschaftsstärke zu erhalten, sind schlecht: Schon jetzt sind 75 Prozent der noch Beschäftigten auf Kurzarbeit gesetzt. Die Aufträge fehlen.

Beim Pneumant-Standort Neubrandenburg ist es dasselbe: Die Reifen will niemand mehr, ihre Produktion wurde im Oktober eingestellt. Ein westlicher Investor ist weit und breit nicht mehr in Sicht, seitdem eine Zusammenarbeit mit der Continental AG in Hannover nicht zustande gekommen ist. Folge: nur noch 183 Beschäftigte gehen einer Vollzeitbeschäftigung nach, während 871 mit Null-Kurzarbeit nach Hause geschickt wurden. 520 Entlassungen stehen unmittelbar bevor, während 600 Arbeitsplätze zumindest bis zum 30.Juni 1991 über die Runden gebracht werden sollen. Was dann wird, steht in den Sternen. „Es wird versucht, neue Produktionslinien aufzubauen“, heißt es in einem Papier der IG Chemie.

Auch bei der Märkischen Faser AG in Premnitz, die Anfang des Jahres noch 6.800 Beschäftigte zählte, werden, wenn die Rechnungen aufgehen, bis 1993 nur 2.500 übrigbleiben. Aber ob die Planung gelingt, ist eher unwahrscheinlich: Die derzeitigen Manager, frühere leitende Angestellte des Unternehmens, die mit Zustimmung der Belegschaft nach der Wende in ihre Funktionen gekommen sind, zeigen sich nach Ansicht der IG Chemie angesichts des Problembündels von Überkapazitäten, mangelnder Produktqualität und unrentablen Produktionsbereichen überfordert.

Mit ähnlichen Problemen haben sich chemische Betriebe der ex-DDR herumzuschlagen. Wenige haben bisher durch Kooperationsabkommen mit westlichen Konzernen ihr Überleben gesichert. Ausnahmen wie das Faserwerk Schwarzheide, das von BASF übernommen wird, bestätigen die Regel.

In diesem Fall allerdings hat die Bundesregierung sich verpflichtet, für die Beseitigung der Altlasten aufzukommen. Insgesamt werden die Sanierungskosten für die industriellen Altlasten der chemischen Industrie Ostdeutschlands nach einer Schätzung des Verbandes der Chemischen Industrie (Ost) auf 15 bis 20 Milliarden Mark geschätzt, nach anderen Schätzungen ist diese Summe viel zu niedrig angesetzt.

Die IG Chemie fordert einen „qualitativen, beschäftigungsorientierten und ökologisch abgesicherten Strukturwandel“, bei dem die Altlastensanierung als von Staat und Wirtschaft gemeinsam übernommen werden soll. Auf jeden Fall müsse versucht werden, Totalschießungen zu vermeiden und die Industriestandorte zu erhalten: „Fortsetzung der Produktion und neue Produktionslinien haben Vorrang vor Kurzarbeit, Kurzarbeit hat Vorrang vor Entlassungen“, heißt die Kurzformel der Gewerkschaft.

Zu den Bemühungen, überlebensfähige Arbeitsplätze zu retten, gehört nach Ansicht der IG Chemie auch eine zeitlich begrenzte Aussetzung des Nachtarbeitsverbots für Frauen im Gebiet der ehemaligen DDR. Chemische Produktion erfordert häufig aus technischen Gründen Nachtarbeit, und in den neuen Bundesländern wird diese zu 24 Prozent von Frauen verrichtet. Diesen Frauen müsse die Möglichkeit geboten werden, sich schrittweise auf andere Arbeitsplätze umzuorientieren. Langfristig allerdings tritt die Gewerkschaft dafür ein, unvermeidbare Nachtarbeit so zu gestalten, daß sie für beide Geschlechter annehmbar wird und das Nachtarbeitsverbot für Frauen damit entfallen kann.

Voraussetzung für jede industrielle Umstellung ist jedoch nach Meinung der Chemiegewerkschaft, daß die Treuhand wesentlich effektiver arbeitet. Es dürfe nicht mehr vorkommen, daß Geschäftsleitungen und Betriebsräte immer wieder von Woche zu Woche vertröstet werden, wenn es um die Bestätigung ihrer Sanierungskonzepte geht. Denn in vielen Betrieben ist es dann, wie bei dem Farbenhersteller aus Berlin, sehr schnell für immer zu spät.