„Ich komme nur, wenn es sein muß“

Die Bonner Grünen luden Widerstandskämpfer und überlebende Opfer des Nationalsozialismus ein Die deutsche Wiedervereinigung hinterläßt bei vielen von ihnen Ängste und Bedenken  ■ Aus Bonn Ferdos Forudastan

„Das erste Mal, stellen Sie sich das vor, das erste Mal, seit es diese Republik gibt, das erste Mal, überlegen Sie sich das einmal, ein halbes Jahrhundert mußte vergehen bis heute, bis zu diesem ersten Mal. Wieso hat es so lange gedauert? Weshalb? Sagen Sie es mir. Erklären Sie mir das.“

Rosa Goldstein wirkt hellwach und sagt, sie sei sehr müde. Fast zehn Stunden lang hat sie, die 69jährige, zusammen mit anderen Menschen im Raum 1903 des Bonner Abgeordnetenhaus „Langer Eugen“ gesessen. Sie hat lange geredet und viel zugehört. Sie hat über ihr Leben gesprochen. Ihr Leben, als den Nazis Widerstand leistende Belgierin jüdischen Glaubens, die zwei Jahre in Auschwitz war, deren Familie und Freunde die Deutschen vergasten. Grüne des Europaparlamemts hatten Rosa Goldstein nach Bonn eingeladen. Zusammen mit Gästen aus Israel, Polen, den Niederlanden, Großbritannien, der Bundesrepublik sollte sie über „Die deutsche Widervereinigung aus der Sicht von WiderstandskämpferInnen und Naziopfern“ berichten. Niemand habe bisher gefragt, was die Nazi-Opfer über die Wiedervereinigung denken, ob sie vielleicht auch etwas dazu sagen wollen, sagte die grüne Europa-Abgeordnete Claudia Roth zu Beginn. Dieses Versäumnis solle nun, an diesem Montag in Bonn ein klein wenig nachgeholt werden. Freilich: Jene Fragen, die Rosa Goldstein der Reporterin Stunden später beim Abendessen stellt, finden dennoch keine Antwort. Warum fragt man uns erst jetzt? Warum hat das offizielle Bonn überhaupt noch kein einziges Mal in über 40 Jahren Nazi-Opfer und WiderstandskämpferInnen eingeladen?

„Wenn ich dieses neue Buch über Nazi-Täter lese, wird mir heiß, wird mir kalt, muß ich weinen, muß ich aufhören. Wie war das alles möglich, Rosa Goldstein? So frage ich mich selbst. Wie konnte ein Volk im 20. Jahrhundert das fertigbringen? Ein Volk aus dem Goethe kommt und Beethoven? Wie? Verstehen Sie das?“

Deutschland: Gefahr für Europa?

Eigentlich hatte in dem Raum, wo die Bonner Anhörung stattfand, ein Plakat hängen sollen, auf dem sie so angekündigt wird: „Kein schöner Land. Offene Wunden von Anfang an. Restauration einer Großmacht mit Vergangenheit?“ Der Direktor des Bundestages blieb jedoch stur: Plakate mit politischem Inhalt dürften eben grundsätzlich im Hohen Hause nicht hängen. „Auch das ist deutsch“, sagt Lea Fleischmann. „Eine Unzahl von Erlassen und Verordnungen, die den einzelnen seiner persönlichen Verantwortung entheben, mit denen er sich dieser Verantwortung entheben läßt.“ Lea Fleischmann, hier geboren und vor elf Jahren nach Israel ausgewandert, ist die Tochter von Nazi-Opfern, von polnischen Juden. Sie glaubt, daß der typisch deutsche Gehorsam dann wieder zur „Gefahr für Europa“ wird, wenn es den Menschen hierzulande ökonomisch wieder schlechter geht. Gerade die Wiedervereingung könne dazu führen. Ganz anders allerdings als Lea Fleischmann betrachtet auch Erika Landau die Wiedervereingung psychologisch. Erika Landau, Überlebende des KZ Auschwitz und Psychotherapeutin in Tel Aviv, fürchtet vor allem um die ostdeutsche Jugend. Sie sei von der Ideologie Hitlers und jeder Verantwortung für die deutsche Geschichte völlig ferngehalten worden. Niemand habe ihnen beigebracht, Alternativen zu entwickeln. Nun suchten sie nach einer neuen Ideologie „und da ist der Faschismus verlockend: Er hat auf alles eine Antwort, er hat Macht und er hat Kraft.“

„Ich komme nur nach Deutschland, wenn es sein muß, wenn eine Veranstaltung wie die heutige stattfindet auf der ich etwas sagen soll und etwas sagen will. Wissen Sie: Ich habe meine Kinder nicht dazu erzogen, gegen die Deutschen zu sein. Auch mein Mann, Maurice Goldstein, ebenfalls Auschwitz-Überlebender und Vorsitzender der internationalen Auschwitz-Komitees hat das nicht getan. Und trotzdem: Nie, niemals würden meine Kinder hier Urlaub machen.“

Chaika Grossmann wollte eigentlich auch wegen dieser Anhörung nach Deutschland kommen. Erst einmal war sie, die jüdische Widerstandskämpferin gegen Nazi-Deutschland und ehemalige Knesset-Abgeordnete, in der Bundesrepublik „aus ganz privaten Gründen, nur um einen sterbenden Freund ein letztes Mal zu sehen.“ Schließlich, als sich ihr Mann bereit erklärt habe, sie zu begleiten, sei der Entschluß gefallen: „Ich komme, um meine Stimme zu erheben. Gerade jetzt.“ Gerade jetzt, weil DDR und BRD sich wiedervereinigt haben „und das muß gerade uns Angst machen.“ Die Fernsehbilder mit den Massen jubelnder Deutscher haben Chaika Grossmann „tief schockiert.“ Sie fühlte sich daran erinnert, daß die Deutschen sich nicht wirklich mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt haben. „Und daß sie es nicht getan haben, macht angst.“ Für Chaika Grossmann hat die Wiedervereingung aber auch noch eine ganz grundsätzliche, eine ganz objektive Dimension. Und vor allem die läßt sie sagen, zwei Deutschland seien ihr nach wie vor lieber: „Es vereinigt sich ein westliches Land mit verlorenen östlichen Gebieten: Dies ist eine Vereinigung auch mit der Vergangenheit und den Mythen der Vergangenheit.“ Allerdings lassen auch die aktuelle politische Lage und konkrete Begebenheiten die ehemaligen Widerstandskämpferin sagen „Die Furcht ist nicht vorbei: Gerade in der ehemaligen DDR wächst die Zahl vor allem neofaschistischer Jugendlicher. Besonders in den letzten Monaten wurden etliche jüdische Friedhöfe geschändet. Und schließlich hat sich die Bundesregierung geweigert, einen Passus in die Präambel des Einigungsvertrages aufzunehmen, der an den Nationalsozialismus und seinen Völkermord erinnert.“

Die Angst vor einem noch größeren Deutschland, vor einem Deutschland das sich als Sieger in der und über die Geschichte fühlt, einem Deutschland das auch die kleinsten Mahnmale an die Verfassung nicht zulassen will — diese Angst war bei allen Teilnehmern der grünen Anhörung zu spüren. „Deutschland einig Vaterland, das hat mich einfach an früher erinnert“, sagt die ehemalige niederländische Partisanin Truus Menger, die heute als Bildhauerin arbeitet. Auch sie fürchtet sich vor immer mehr rechtsradikalen deutschen Jugendlichen. Daß gerade in letzter Zeit ehmalige KZs geschändet wurden, läßt sie sich bedroht fühlen. Als „Verbrechen“ empfindet es ihre Freundin, die ehemalige jüdische Widerstandskämpferin Miriam Ohringer, daß Deutschland nun die Opfer des Stalinismus gegenüber denen des Nationalsozialsozialismus aufwertet. Und schließlich: „Wie die Bundesdeutschen mit den DDR- Deutschen umgehen, das läßt mich wenig Vertrauen in die Wiedervereinigung entwickeln.“

Esther Bejerano, Mitglied im Mädchenorchester Auschwitz, heute Musikerin in Hamburg, Sprecherin der Vereinigung des Verfolgten des Nazi-Regimes und Vorsitzende des deutschen Auschwitz- Komitees möchte dem was Chaika Grossmann etwa oder Rosa Goldstein vor ihr gesagt haben vor allem nur noch dies hinzufügen: „Ich kann nicht sagen, daß ich beruhigt über das Verschwinden der DDR bin. Zwei deutsche Staaten waren für mich beruhigender.“

„Sie sind erschrocken, Sie sind entsetzt, es fällt Ihnen schwer, mir das alles zu glauben? Ich sage Ihnen, noch Hunderte von Geschichten könnte ich Ihnen erzählen, von Hunderten von Toden, die ich fast gestorben bin. Warten sie, im Bus berichte ich Ihnen von meiner Selektion durch Mengele, Mengele, den Artzt, Sie kennen ihn doch. Nein, es macht mir nichts aus zu erzählen. Ich muß erzählen, sonst wird es vergessen. Sonst gibt es keine Erinnerung mehr und kann wieder passieren.“

Kaum öffentliches Interesse

Nicht viele wollen sich an diesem Montag in Bonn erinnern lassen. Kaum eine Handvoll JournalistInnen sind gekommen, sich anzuhören was Rosa Goldstein und die anderen ehemaligen WiderstandskämpferInnen und Nazi-Opfer über die Widervereinigung denken. Außer ein paar wenigen Grünen hat es wohl auch die Bundestagsabgeordneten nicht interessiert. Rosa Goldstein und Chaika Grossmann, Esther Bejerano und Erika Landau, der ehemalige deutsche Widerstandskämpfer Emil Carlebach, der ehemalige Widerstandskämpfer und Zwangsarbeiter Alfred Hausser, der Pole Stanislaw Kania, die junge Roma Fatima Hartmann — sie alle registrieren dies. Sie alle äußern sich dazu ähnlich: „Ich will die Deutschen nicht erziehen“, sagt Chaika Grossmann. Aber auch: „Wir müssen immer wieder davon sprechen, damit es nie wieder geschieht.“ „Im Namen der zu Tode Gekommenen dürfen wir nicht schweigen. Besonders jetzt nicht, sagt Rosa Goldstein. Sie will sich nun zusammen mit den anderen dafür einsetzen, daß mindestens die neue Präambel des Grundgesetzes an das Leid ihres Volkes erinnert. Für Alfred Hausser gilt es gerade jetzt, weiter für die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter zu kämpfen, denn „wir brauchen einen Aufstand des Gewissens. Sie müssen mir nicht für das danken, was ich Ihnen erzählt habe. Ich danke, daß Sie mir zugehört haben.“