piwik no script img

Mythisierte Identitäten

Film in der Slowakei/ Über eine Retrospektive in der Berliner Akademie der Künste  ■ Von Oksana Bulgakowa

Unter der Schirmherrschaft des Europarates sollte im großen Stil und den kleinen Seminarräumen der Akademie der Künste/West eine Entdeckung stattfinden: das Kino der Slowakei. Die eingefrorene neue Welle aus den sechziger Jahren, eine verbotene, in Panzerschränke geperrte Film-Identität. Die wichtigsten Filme und Macher waren da — auf Betreiben von Hans- Joachim Schlegel, dem Kenner der Materie und Initiator des Seminars. Was nicht da war, war ein Minimum Öffentlichkeit, für die diese Entdeckung stattfinden sollte. Abends soll der Saal voll gewesen sein. Dafür liefen den ganzen Tag die Filme, klärenden Diskussionen und Vorträge unter Insidern. Acht Slowaken, zwei Russen, zwei Dolmetscher, drei Veranstalter, drei Journalisten, ein Photograph. In dieser trauten Runde waren die Schlagworte wie „Sehnsucht nach offenen Grenzen und Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft auf dem europäischen Kontinent“, „europäische Filmkultur in den Umbrüchen der Geschichte“ Chimäre. Und für wen sollten da die Probleme des Einmarschs und des Exils, der Nischen und Reservate einer nationalen Filmkultur geklärt werden? Die Betroffenen flüchteten in eingeübte Statements, einen verbalen Schutzmantel für die nicht heilen wollenden Wunden.

Die Slowakei existierte eigentlich zwischen 907 und 1918 nicht. Die Sprache war verboten, durfte nur in der Kirche gebraucht werden, selbst Grabaufschriften mußten in Ungarisch gemeißelt sein. Dieses Sprachverbot wurde noch 1905 von dem Bildungsminister erneuert. So blieben Kirche und Folklore, Religion und Etnographie die einzigen Stätten der „Aufbewahrung“ nationaler Kulturidentität. Und die ersten slowakischen Schriftsteller waren folgerichtig Priester. Ein slowakisches Kino gab es nicht. Das entstand erst später — mit Hilfe der Tschechen. Als ethnographische Dokumentation für Riten, Bräuche, Tänze, Lieder. Den ersten langen Film drehte ein Freund von Masarik und Capek, der Ethnologe Karol Plicka, zwischen 1923 und 1931. Er sammelte Folklore und hielt sie mittels Kamera und Magnetband fest: Die Erde singt (1933), eine folklorisierte Darstellung des Paradieses Slowakei. Die Bauern in Trachtenkleidung, zyklischer Wechsel von poetisierten Feldarbeiten und Handwerkskünsten: Säen, mähen, sicheln, weben, spinnen. In Deutschland war der Film besonders populär, man schnitt die lange Fassung in kürzere um und zeigte sie als „Blut- und Bodenfilme“. Die Entdeckung der nationalen Identität war schon damals populär. Die vollständige Fassung dieses Films wurde in Deutschland gefunden, nachdem eine deutsche Bombe das „nationale Negativ“ in der Heimat vernichtet hatte.

Zum zweiten Mal wurde der slowakische Film nach 1945 geboren — in der sozialistischen Republik. Und wiederum mit Hilfe von Tschechen. Stefan Uher erzählte, daß sie gemeinsam auf einer Schule in Prag waren (es gab nun mal nur eine Filmschule) und alle das neue Kino ausbrüteten. Ob man da unbedingt die Unterteilung in tschechische und slowakische neue Welle machen mußte? Eine Vereinigung gab es 1968. Einen Frühling hat es nicht nur in Prag gegeben, auch Panzer nicht. Nun sind die Panzer weg, alle fühlen sich frei, und die Slowaken wollen jetzt ihre nationale Identität im Film und sonst getrennt behaupten.

Die Entstehungsgeschichten kleiner nationaler Kinematografien ähneln sich. Das große Land Sowjetunion hat zum Beispiel auf merkwürdige Weise das Kino in allen mittelasiatischen Republiken geschaffen: zweitrangige russische oder ukrainische Regisseure fuhren in die exotischen Regionen mit europäischer Technik, schrieben Drehbücher aus dem „nationalen Leben“, hielten die Exotik der Riten für nationale Kultur, brachten dabei viel durcheinander. Wenn einheimische Schönheiten sich nicht vor die Kameras trauten, wurden Georginnen oder Russinnen eingeflogen und als befreite Frauen des Orients gefilmt... Man versuchte, die nationale Identität mit neu genähten Trachten, einstudierten Liedern, inszenierten Tänzen und Riten zu fassen. Die Folklore wirkte wie eine angelegte Maske. Die nachfolgende Filmgeneration versuchte immer noch, an diese ethnologische Nostalgie anzuknüpfen. Um sich selbst nicht zu verlieren.

Daraus entstand eine zuweilen interessante Mischung aus Archaik, hochentwickelter analytischer Technik (wie es die Filmtechnik mit ihrer Zerlegung der sich bewegenden Welt in 24 stehende Bilder nun mal an sich hat) und mythisierten Nationalkultur. Fremde Symbolik umgibt den Film mit dem Flair eines nicht zu entziffernden Geheimnisses. Im modernen, so durchschaubaren Kino mit seinem wie von Ladenketten standardisierten Genrekinorealismus wirkt es exotisch und erfrischend. Es ist wahrscheinlich das, was wir uns als multikulturelle Rettung erhoffen.

Doch zurück in die Slowakei. Zwei Regisseure, Elo Havetta und Juraj Jakubisko, versuchen das Nationale als Ethnographisches zu etablieren. Eine mystifizierte Ethnographie im Filmparadies, im „botanischen Garten“. Man konnte verfolgen, wie allmählich Jakubisko sich seine Filmwelt errichtet hatte (Retrospektiven sind für Mythenbildner gefährlich!). Sein Debüt in Schwarzweiß, Die Christusjahre (1967), ist für die damalige Zeit traditionell. Ein Maler, gequält von Kompromissen. Sein Bruder, ein Flieger, gequält von Angst. Beide haben die frühere Freiheit eingebüßt. Und das hängt nicht mit Panzern zusammen, die rollten damals noch nicht.

Die beiden sind verliebt in ein leichtfüßiges, fast körperloses Mädchen. Und kommen nicht weg von ihren irdischen, schönen, fleischlichen Frauen. Der Film ist in slowakisch gedreht, nur spricht der Schauspieler, ein Tscheche, diese Sprache sehr schlecht. Das ist unwichtig — die Story und die Typen hätten überall zwischen Moskau und Babelsberg gedreht werden können. Der zweite Film von Jakubisko, Deserteure und Pilger (1968), machte den Anfang einer Trilogie der ethno-kulturellen Suggestion. Drei Novellen sind an einem „folkloristischen“ Ort, doch zu verschiedenen Zeiten angesiedelt. Den Ort gibt es wirklich — das Geburtsdorf des Regisseurs, in dem er alle seine Filme gedreht hat. Nichtsdestotrotz ist es eine imaginäre Gegend, die mit realer historischer Zeit konfrontiert wird. Zwei Kriege und ein Ende: ein Berg von Leichen. Es gibt nur einen Sieger, den weißen Husaren Tod. Und wenn dieser sich verliebt, verliert auch er. Während der Dreharbeiten kamen plötzlich echte Panzer. Und Soldaten nehmen die von den Filmarchitekten gemalten Schilder „Vorsicht, Minen!“ als Provokation. Diese anekdotische Vermischung der Spiel- und Realitätsebene führte zum Verbot: Die Kopie der Deserteure und Pilger wurde konfisziert und landete in einem Safe. Eine total mythische Handlung um imaginäre Gefahr: Als der Safe aufgemacht wurde, war das Filmmaterial so verdorben, daß da keiner mehr etwas sehen (und „sich infizieren“) konnte. Nur weil das Negativ damals zur Entwicklung nach Italien geschickt wurde, konnte man heute noch eine Kopie ziehen lassen und den Film retten. Der Regisseur selbst hatte kaum mehr auf eine solch wundersame Rettung gehofft und drehte ihn noch einmal — als eine andere Geschichte mit ähnlichen Motiven: Vögel, Waisen und Narren (1969), vielleicht der vollkommenste Ausdruck seiner Postkreation nationaler Kultur als faszinierend geheimnisvolle Exotik. Jakubisko wird das (auch sich selbst) nie eingestehen. Die Filme aber verraten das auf seltsame Weise, sie schaffen ein Leben, das es nicht gibt. Drei Außenseiter, zwei Jungen und ein Mädchen, versuchen, ihr Leben spielend zu leben. Sie tun es in einem selbstgebauten Raum: alte Möbel, Fetzen, Kerzen, Kränzchen ... Der Schrank wird als alles mögliche, nur nicht als Schrank benutzt. Aus Papier soll die Spielwelt entstehen, in der ihre Freiheit existiert und keiner über die „menage à trois“ stolpert. Doch die Realität holt sie ein. Verspieltheit verheißt keine Befreiung aus den Zwängen der erkannten Absurdität und Ausweglosigkeit des Daseins. Da hilft es wenig, wenn man diese existenzielle Schwermut mit „Kritik am System“ überschreibt und mit der „Abschaffung des Systems“ ad acta zu legen versucht. Die wunderbare Leichtigkeit der Imagination schafft das nicht: der Karneval der Vögel, Waisen und Narren endet im Blut. Der Held ersticht die von einem anderen schwangere Geliebte und zündet sich selbst an. Ab und zu eingeschnittene Bilder, die die bunten Außenseiter plötzlich in normaler Kleidung und normalen Neubauten zeigen, verraten die Unmöglichkeit eines spielerischen Ausgangs: die Kunst sperrt sich als Tröster selber aus. Die Trilogie wurde in diesem Jahr mit Ich sitze auf dem Baum, und mir geht es gut vollendet. Wieder baute jakubisko eine Geschichte um zwei Narren und ein Mädchen, die zusammen leben. Er placierte die Helden in die historische Realität der Slowakei nach dem Krieg, da Erscheinen die sowjetischen Soldaten und die einheimische Sicherheit, Lager, stalinistische Waisenhäuser und deutsche Judentransporte. Aber sie sind lediglich Hintergrund für die bekannten Motive.

Diese theatralisierte „Folklorisierung“ steht nah an der Grenze kommerzieller Ausnutzung. Das witterten schon vor Jahren westdeutsche Produzenten (die alte Affinität zu dem „singenden Boden“), und sie finanzierten munter eine Koproduktion mit. Märchenverfilmung. Und Jakubisko hat mal mitgemacht: Frau Holle, dasselbe Dorf, dieselben Trachten und Julietta Masina.

Sein Kollege und Freund, der früh verstorbene Elo Havetta, hat bewußt den folkloristischen Mythos mit dem Wunder Filmtechnik zusammengebracht und ließ seinen Helden unter den Fahrgästen des Lumière-Zuges Platz nehmen. Die Kamera rettet — durch Rückwärtslauf — eine abstürzende Zirkusartistin und läßt die Musiker fliegen. Ein eleganter und trauriger Scherz über das Fest im botanischen Garten (1969): ein gebautes Tropenhaus, wo die Helden eingesperrt werden wie in die Glasglocke eines Filmateliers, in dem die nationale Mythologie mit Hilfe der Filmtechnik geschaffen wird. Havetta scherzte, Jakubisko meinte es ernst, nur das Paradies Slowakei zerbrach immer mehr, und die Zeit spielt die Rolle des Zerstörers. Dusan Hanak kehrte in Bilder einer anderen Welt (1972) und Ich liebe, du liebst (1980) das Bild um und brach mit der ethnographischen Rührung (beide Filme wurden in Berlinale-Programmen vorgestellt). Stefan Uher und Hanak sind Antipoden der mythisierten Nationalidenität.

Interessant ist, wie zwei ihrer frühen Filme die materiellen Grunderlebnisse — Sehen und Hören (Sprechen) — zu Geschichten machen. Aus dem Alltag in die mediale Substanz übertragen. Sonne im Netz variiert das Thema des Sehens/Nichtsehens als Trauma, Krankheit, Sinnestäuschung. Blind ist die Mutter des fünfzehnjährigen Jana. Ihr Freund ist ein passionierter Photograph. Wer sieht was, was wird zum Erlebnis? Auf der Ebene der Sozialkritik war das die nicht ethnographisch poetisierte Realität eines sozialistischen Dorfes, die die Filmgewaltigen nicht sehen wollten (der Film war damals auch verboten). Stefan Uher beendete seine Sonne im Netz mit einer metaphorischen Szene: erblindete Frau und ausgetrocknetes Meer. Die Kinder erzählen ihr, um sie zu schonen, vom Wasser. Und sie spürt es. Diese melancholische Parabel auf Alltagsfüßen wirkt heute noch. Wie 322, das Debüt von Hanak. Auch ein verbotener und geretteter Film. Hier geht es um die Stimme. Der Held glaubt, daß er während der Kollektivierung etwas Falsches gesagt hat und erkrankt deshalb an Kehlkopfkrebs. 322 ist der Preis eines Kleides, das sich die Krankenschwester kauft, und zugleich der Diagnoseschlüssel. Der Zufall regiert. Vielleicht hat der Held keinen Krebs. Er mußte nur durch die Reinigung des gesprochenen Wortes hindurch. Durch Schweigen. Durch sein Darma des Sehens und Sprechens.

Die Bemühungen der HdK, die das Seminar veranstaltete, sind rührend. Doch schien mir mitunter, daß wir in der Beschwörung einer multikulturellen Realität etwas künstliches kreieren. Wir mythisieren Ethnographie als nationale Identität. Und betreiben munter das Mythisieren der alten Verbote. Vielleicht war ein viel zu enger Raum schuld daran. Oder die vielen Worte, die die realen Filmerlebnisse gleichsam zu etwas Nicht- existentem machen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen