Helsinki Endstation. Alles aussteigen?

■ Wie weiter mit der KSZE?/ Brüssel, Bonn und Bush sträuben sich gegen eine Institutionalisierung des KSZE-Prozesses

Die KSZE stammt aus der Zeit der Entspannungshoffnungen im Systemkonflikt zwischen Ost und West. Aus der Konfrontation des Kalten Krieges und der Koexistenz der Systeme sollte nun eine Kooperation werden. Sicherheitspolitische Fragen lagen im beiderseitigen Interesse, der Osten war an wirtschaftlich-technischer Zusammenarbeit, der Westen an der Durchsetzung von Menschen- und Freiheitsrechten auf der anderen Seite des „Eisernen Vorhanges“ interessiert. Zwar waren die autoritär-bürokratischen Systeme durch die Forderung nach Menschenrechten bedroht, doch hoffte man wohl, die materielle Kooperation würde eine schnelle Hebung des Lebensstandards ermöglichen, wodurch sich solche „Liberalisierungen“ auffangen ließen.

Die Kalkulationen in West und Ost sind so recht nicht aufgegangen. Der entscheidende Faktor der Veränderung lag in der Unfähigkeit der bürokratisch-etatistischen Systeme, sich zu modernisieren. Erst ihr Zusammenbruch brachte das neue Denken, Demokratisierungstendenzen im Osten und eine völlig veränderte europäische Situation. Trotzdem wird in Öffentlickeit und Politikermeinung dem KSZE-Prozeß eine hohe Bedeutung zugemessen. Er habe wesentlich dazu beigetragen, den dramatischen Wechsel letztlich relativ friedlich zu gestalten.

Warum sollte die EG sich in ihrer starken Position von den anderen europäischen Staaten einschließlich der USA, aber auch von der ehemaligen östlichen Vormacht hineinreden lassen? Auch die Menschenrechtsfragen, die nach wie vor vielerorts ungelöst sind, haben für den Westen an Attraktivität verloren, geht es doch nicht mehr um die diffamierende Vorführung des anderen Systems. Und an der Vorführung der Türkei oder portugiesischer Gefängnissituationen ist man nicht sonderlich interessiert. Was bleibt, ist der sicherheitspolitische Bereich. Doch mit der militärischen Konfrontation hat auch dieses Terrain an Brisanz eingebüßt.

Dennoch gibt es einen höchst aktuellen Aspekt der KSZE: Sie eignet sich wie kaum eine andere Institution als Ausgangspunkt für eine gesamteuropäische Friedensordnung. In ihr sind nämlich fast alle europäischen Staaten vertreten, inklusive der Blockfreien und Neutralen, aber auch die ehemaligen Vormächte USA/Kanada und die Sowjetunion. Über eine europäische Friedensordnung ist unter den Stichworten „Gemeinsames Haus“, „Überwindung der Spaltung und Integration Europas“, „Gemeinsame Sicherheit“ usw. bereits viel gesprochen worden. Die deutsche Vereinigung sollte in die europäische Einigung eingebettet werden. Von den „2+4“-Gesprächen erwartete so mancheR einen Aufriß solcher Ordnung, ebenso vom deutsch-sowjetischen Vertrag. Doch überall nur Fehlanzeigen. Hauptkommissar Delors von der EG artikulierte sein offenes Unbehagen an einer kompetenzreichen Institution, und Außenminister Genscher brachte bisher nur Vorschläge für schwächlich-kompetenzlose KSZE-Institutionen ein.

Der Verdacht, hier würden nur Alibigremien geschaffen, während die tatsächliche Gestaltungsmacht andernorts bleiben soll, ist nicht von der Hand zu weisen. Die klarste Gegenposition kam vom tschechoslowakischen Präsidenten Vaclav Havel, der im April mit deutlichen Worten den Aufbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung auf der Basis der KSZE gefordert hat. Der Hintergrund solcher Verhaltensweise ist unschwer verständlich. Durch den Zusammenbruch der bürokratisch- etatistischen Gesellschaften ist die EG und ihr europäischer Nato-Pfeiler zur stärksten Ordnungsmacht auf dem Kontinent geworden. Die EG- Regierungen begreifen sich mehr und mehr selbst als die Träger einer europäischen Friedensordnung.

Wer soll ihnen denn auch noch Paroli bieten? Die Nicht-EG-Staaten müßten zur Aufwertung ihrer Position versuchen, die riesige Überlegenheit Westeuropas mit politischen Mitteln auszugleichen. Dazu bietet sich Havels gesamteuropäische Friedensordnung auf der Basis der KSZE-Staaten an. Diese wäre jedoch „realpolitisch“ nur wirkungsvoll, wenn ihre Institutionen nicht nur unverbindlich tagten, sondern weitreichende Kompetenzen und Mittel erhielten. So gesehen wird die Frage nach der KSZE-Perspektive zur Frage nach der Zukunft Europas: Wird dieses eine EG-zentrierte Globalmacht mit europäischen Hinterhöfen oder entwickelt es sich zu einem gemeinsamen Haus, in dem alle europäischen Staaten im Rahmen einer Friedensordnung gleichberechtigt kooperieren. Sozialen Bewegungen und demokratischen Bestrebungen kann somit die Perspektive der KSZE nicht gleichgültig sein. Andreas Buro

Der Verfasser war lange Jahre Sprecher der Ostermarschbewegung und Professor für internationale Politik in Frankfurt. Heute ist er Sprecher des „Komitees für Grundrechte und Demokratie“.