Hundert grüngebundene Seiten Papier

■ Die Geschichte der Helsinki-Schlußerklärung im Zeitraffer/ Vom Molotow-Vorschlag bis zur neuen Unübersichtlichkeit in Wien: An den Themen der KSZE-Konferenz spiegelt sich der Zeitenwechsel in Osteuropa wieder

Alles begann dort, wo später alles enden sollte: in Berlin. Eben hier machte Wjatscheslav Molotow — genau: der mit dem Cocktail, damals noch Außenminister der SU — 1954 den explosiven Vorschlag einer europäischen Konferenz über Sicherheit. In Ermangelung eines Friedensvertrags soll der territoriale und politische Status quo auf dem alten Kontinent festgeschrieben werden. Ein etwas unglücklich gewählter Moment. Der Kalte Krieg eignete sich nicht sehr für Familientreffen dieser Art. Erst nach Willy Brandts Aufwärmübungen in Warschau, Jena und Moskau wagen sich 33 europäische Außenminister (Albaniens Führer Enver Hodscha hatte das Unternehmen rechtzeitig als perfides Manöver des SU/US-Imperialismus entlarvt) unter dem Schutz von USA und Kanada auf den langen Marsch zu „Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“.

Erste Etappe: Helsinki, Kongreßpalast. 3. Juli 1973. 35 Minister geben sich drei „Körbe“: politische Fragen und Sicherheit, Wirtschafts- und Handelskooperation und schließlich Menschliches. Eine Flottille von Experten wird auf den Abstecher nach Genf geschickt, um die Körbe mit Inhalten zu füllen. Nach zwei Jahren erbitterten diplomatischen Buschkriegs, nach 3.000 Sitzungen und 40 Tonnen verbrauchten Papiers melden sich die Experten erschöpft mit einem Entwurf zurück. Die Sowjetunion, damals von einem gewissen Leonid Breschnew in kräftiger Erstarrung gehalten, sah in dem geforderten Recht auf Freizügigkeit eine Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten — und hatte damit auch sehr recht, wie die Geschichte zeigen sollte. Doch plötzlich gibt Breschnew nach. Vermutlich weil US-Präsident Ford ihm den ersten SALT-Vertrag versprochen hat. Und so unterzeichnen 35 Staatschefs (für Nostalgiker einige Namen: Wilson, Schmidt, Husak, Tito, Demirel) am 21. Juli 1975 die „Schlußerklärung von Helsinki“. Unverletzbarkeit der Grenzen, Menschenrechte, vertrauensbildende Maßnahmen, freier Nachrichtenfluß und Zuckererbsen für jedermann. Hundert in grünes Leder gebundene Seiten fromme Wünsche. Oder? Portugals Präsident Costa Gomes kommt verspätet. Es ist gerade Revolution zu Hause.

Zweite Etappe: Belgrad, Kongreßpalast. 4. Oktober 1977. Schleyer sitzt im Volksgefängnis, und Jimmy Carter führt, belächelt von der bundesdeutschen Linken, einen Kreuzzug für Menschenrechte überall. Wider Erwarten hatte die papierne Helsinki-Erklärung (die in allen Parteiorganen Osteuropas vollständig veröffentlicht worden war) höchst reale Folgen gehabt, die nun in Belgrad an die Öffentlichkeit traten. Dissidentengruppen aus der CSSR, Polen, Ungarn, Rumänien und der Sowjetunion klagen die Nichteinhaltung der Versprechungen in ihren Ländern an und versuchen, die realpolitischen Litaneien der Diplomatie zu stören. Sacharow appelliert an die westlichen KSZE- Staaten, „nicht vor dem Totalitarismus zu kapitulieren“ und den dritten Korb zum Konferenzthema zu machen, was Gromyko kategorisch abgelehnt hatte. Auf den ersten drei Sitzungen in Belgrad wird das Wort Menschenrechte kein Mal ausgesprochen. Die SU hatte in Sachen SALT und Nahost gerade Einlenken signalisiert. Amalrik und Bukowski klagen auch den Westen an, den Status quo in Europa zementieren zu wollen. In Paris werden sie demonstrativ von Sartre und Foucault empfangen, nachdem das staatliche Fernsehen Frankreichs eine Sendung wegen des bevorstehenden Besuchs Breschnews abgesagt hatte. Belgrad ist die Konferenz der Dissidenten — die Diplomaten reisen am 8. März 1978 wieder ab. Die knappe Schlußresolution ist ein Eingeständnis des Scheiterns. Auf Wiedersehen in Madrid.

Afghanistan brüderlich okkupiert, Polen am Rande des Bürgerkriegs, Reagan bereits gewählt, aber noch nicht im Amt — am 11.11.1980, dem Beginn der zweiten Folgekonferenz in Madrid, sind die Voraussetzungen für Entspannung denkbar schlecht. Im Vakuum der Diplomatie entwickelt sich Spaniens Hauptstadt zum Treffpunkt der Dissidenten aller Länder, inklusive der US-Indianer und Anti-Sandinos aus Nicaragua. Ein Lette öffnet sich die Venen, in Moskau hungerstreiken hundert Refuzniks für die Ausreise. Nach knapp dreijährigen Verhandlungen wird eine Erklärung verabschiedet, die gewerkschaftliche Rechte erwähnt und das Mandat für eine KSZE-Abrüstungskonferenz auf konventionellem Gebiet erteilt. Außerdem werde, so heißt es, jedes Mitglied verstärkt gegen Terrorismus kämpfen. Zum Abschluß der Konferenz wird über dem Gebiet der Sowjetunion ein koreanischer Jumbo abgeschossen.

Wie in der Schlußerklärung vorgesehen, trafen sich auch die Experten zwischendurch. In Ottawa 1985 wg. Menschenrechten, in Bern wg. Personenkontakten und in Stockholm (1981-1986) in Sachen Vertrauensbildung und Sicherheit. Doch nur in Stockholm fand man zusammen und einigte sich auf das gegenseitige Recht zur Inspektion von Militäranlagen. Immerhin das erste blockübergreifende Sicherheitsabkommen seit 1975.

Endspurt in Wien, 4. November 1986. Von jetzt an folgt die KSZE- Konferenzdiplomatie den Machtkämpfen im Kreml. Je mehr Gorbatschow Fuß faßt, desto „konstruktiver“ werden die Gespräche. Die Debatten werden öffentlicher, regierungsunabhängige Organisationen plötzlich zugelassen. Friedensbewegung und Bürgerrechtsgruppen machen sich daran, eine „KSZE der Bürger“ (siehe Kommentar) aufzubauen. Die sich häufenden Abrüstungsvorschläge der Sowjetunion im Gefolge des Gipfels in Reykjavik bringen die USA in die Defensive. Reagan und Shultz bevorzugen Verhandlungen mit klaren Fronten im Rahmen der Militärblöcke gegenüber den immer unklareren Fronten innerhalb der KSZE. Die Welt wird unübersichtlicher. Zu guter Letzt wird am 19. Januar 1989 sogar eine KSZE-Menschenrechtskonferenz in Moskau beschlossen. Erstes Vorzeichen eines Jahres, das sich noch als ereignisreiches entpuppen würde. Alexander Smoltczyk