Befreiung von der „Emanzipation“

KSZE der Frauen: Wende in Osteuropa stürzt Frauen in neue Misere/ Internationales Netzwerk gefordert  ■ Aus Berlin Ulrike Helwerth

Karl Marx hat sich in mancherlei Hinsicht geirrt. Zum Beispiel darin, daß sich „das Rad der Geschichte“ nicht zurückdrehen läßt. Es war eine deprimierende Bilanz, die die Vertreterinnen aus sieben ehemaligen realsozialistischen Ländern gestern, am ersten Tag der „Frauen-KSZE“ in Berlin, auf dem Podium zogen: „Vielleicht befinden wird uns bald in der absurden Situation, daß wir uns von unserer bisherigen ,Emanzipation‘ emanzipieren müssen“, brachte die jugoslawische Journalistin Slavenka Drakulic aus Zagreb knapp auf den Punkt, was ihre Mitreferentinnen in meist trocken sozialwissenschaftlichen und sich wiederholenden Beiträgen den rund 300 Zuhörerinnen darlegten. Die Kurzfassung lautet: Der Realsozialismus hat den Frauen außer harter (Lohn-)Arbeit kaum etwas gebracht — und die „neue Demokratie“ nimmt ihnen jetzt die wenigen „Errungenschaften“, wie relative ökonomische Unabhängigkeit, Kinderbetreuungseinrichtungen oder das Recht auf Abtreibung, auch noch weg. „In Ungarn interessiert sich keine der neuen Parteien für Frauenfragen“, erzählte Maria Adamik, Soziologin aus Budapest. In den vergangenen zehn Jahren habe sich stattdessen eine „antifeministische“ Stimmung breitgemacht. „Die egoistischen Frauen“, so hieße es, seien die Hauptschuldigen für die hohen Scheidungziffern, die steigende Sterblichkeitsrate bei Männern und die sinkende Geburtenrate.

Nicht nur in Ungarn sind die Frauen in den frei gewählten Parlamenten kaum, in der neuen Regierung überhaupt nicht vertreten. Dieses Phänomen wiederholt sich in allen anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks (siehe Kasten). „Wir beobachten heute in der neuen Demokratie, daß sich die Frauen nicht nur aus dem politischen, sondern aus dem öffentlichen Leben im allgemeinen zurückziehen“, so die Feministin Slavenka Drakulic. Sie habe beobachtet, daß die meisten Frauen in den ost- und mitteleuropäischen Ländern nach Jahrzehnten der Doppel- und Dreifachbelastung müde seien und sagten: „Laßt uns nach Hause gehen und etwas ausruhen“.

Regierungen und Wirtschaft fördern diese Haltung. Die Ökonomie in Ost- und Mitteleuropa hat sich aus dem Korsett der bürokratischen Kommandowirtschaft befreit und damit gleich ein gut Teil seines Proletariats — und zwar von der Lohnarbeit. Die Frauen noch mehr als die Männer: In Bulgarien zum Beispiel sind inzwischen 70 Prozent der gemeldeten Arbeitslosen Frauen, wie Kostadinka Simeonova, Professorin an der Akademie der Wissenschaften in Sofia, erzählte. Sie attestierte ihrem Land eine Periode „des völligen Verfalls und der totalen Destruktivität“ und führte unter anderem an, daß die neuen, aber kaum zu bezahlenden Verlockungen der Konsumgesellschaft viele junge Mädchen dazu „verführten“, auf den Strich zu gehen. Das sei ein Problem vieler Mütter und Kinder, „die die posttotalitäre Gesellschaft an den sozialen Rand getrieben hat“.

Allerorten ist inzwischen das Recht auf Abtreibung (nur in Rumänien war unter Ceausescu der Schwangerschaftsabbruch strikt verboten) unter Beschuß geraten. So heißt es zum Beispiel in der neuen Konstitution des jugoslawischen Staats Slowenien: „Die Verfassung basiert auf der Heiligkeit des Lebens“. Und der dortige christdemokratische Kulturminister hat bereits deutlich gemacht, daß dieser Satz auf ein Abtreibungsverbot abzielt. Noch drastischer ist die Entwicklung in Polen, wo eine unheilige Allianz aus katholischer Kirche und Solidarność seit geraumer Zeit versucht, Abtreibung gänzlich zu verbieten. Der aktuelle, bereits abgemilderte Gesetzesvorschlag des Senats laute heute, daß nur die ÄrztInnen bestraft werden sollen, die Abbrüche vornehmen, berichtete Renata Siemienska, Soziologin aus Warschau. Positiv an diesem Konflikt aber sei, daß sich die polnischen Frauen zum ersten Mal für ihre Rechte zusammenschlössen. Von den ca. 30 Frauenorganisationen im Lande sei die große Mehrheit für die Abtreibungsfreiheit.

Im ehemaligen Ostblock gibt es bislang kaum Ansätze für eine Frauenrechtsbewegung. In den Bürgerrechtsbewegungen der UdSSR seien kaum Frauen vertreten, berichtete Natalia Zakhorova, Mitarbeiterin im „Institut für Geschlechterforschung“ an der Akademie für Wissenschaften in Moskau. Und die rumänische Bürgerrechtlerin Doina Harsanyi-Pasca sagte, die meisten Frauen in Rumänien hielten die Frauenbewegung für eine „Frivolität“. Eine Ausnahme macht Jugoslawien. Letzten April gründete sich landesweit die „Unabhängige Frauenallianz“, eine Dachorganisation verschiedener Gruppen, die sich in Politik und öffentlichkeit für mehr Frauenrechte stark machen will.

Ein deprimierender Nachmittag. Der Wunsch der Rednerinnen nach einem internationalen Frauennetzwerk gegen die internationale Misere klang wie ein Hilferuf. „Habt Erbarmen mit der Bulgarin“, bat Kostadinka Simeonova — in Abwandlung eines Spruchs des Dichters Guillaume Apollinaire.