Es ist eine fremde Welt

■ Urbane Aboriginale Lokal VI — Experimente mit Musik in Ballhäusern

Die Musikfestivals fallen wie die Herbstblätter im Wind. Gerade ist das JazzFest fast sang- und klanglos verstrichen, das parallele Total Music Meeting wirkt nach über zwanzig jähriger Tätigkeit auch nicht gerade taufrisch und das Sommerfestival Jazz in the Garden wird wahrscheinlich im nächsten Jahr mit hoffentlich radikal neuer Konzeption im Haus der Kulturen der Welt fortgeführt (falls das Haus der Kulturen bis dahin nicht wohnungslos auf der Straße steht, weil der Bundesrat die Kongreßhalle für sich beansprucht).

Ein Festival, das sich selbst nicht als solches versteht und doch wohl seit sechs Jahren eines der spannendsden Programme in Berlin auf die Beine stellt, sind die Urbanen Aboriginalen. Man präsentiert den Sound der »städtischen Ureinwohner« nicht zufällig im Kreuzberger Ballhaus an der Naunynstraße. Die veranstaltenden Freunde Guter Musik e.V. wollen gerade jetzt, wo der Kiez durch Spekulatentum endgültig hof- und hauptstadtfähig werden soll, die lokale Perspektive einnehmen: »Die Welt schaut auf diese Stadt! Wenden wir den Blick nicht ab: präsentiert wird Musik und Performance der Grenzgänger, Quertreiber, Fallensteller. Es geht um Originale und Aboriginale westlicher wie östlicher Herkunft, die im Kreuzfeuer der Kulturen und Stile nach individuellen Lösungen suchen.«

Diese Sichtweise ist nicht neu, mit Leuten wie Fast Forward, Elliott Sharp oder Shelley Hirsch hat man auch in den letzten Jahren bei den Aboriginalen ein Spektrum zwischen Improvisation, Jazz und Experimenteller Performance vorgestellt, nur geht es diesmal, dramatisch gesagt, darum zu zeigen, welche Spezies vom Aussterben bedroht ist. Dabei greifen die »Freunde« tief in den Fundus und präsentieren gleich am ersten Abend mit drei Bands, oder nennen wir sie lieber Projekte, eine heikle Mischung mit jazzigen Fleischereiklängen (Slawterhaus), mit »Menschen machen Musik« — ein Quartett um den Schlagzeuger Jim Meneses, und mit den Audio Ballerinas.

Slawterhaus gründeten sich bereits im April ‘87 in der DDR. Sie waren, lange noch vor all dem dummen Geschwätz, das heute über den ach so bösen Sozialismus verbreitet wird, ein Exempel dafür, daß man dort in einigen Bereichen mehr anstellen konnte als im gelobten Westen. Die Gruppe mit den DDRlern Dietmar Diesner (Saxophon) und Johannes Bauer (Posaune) wurde ergänzt durch Jon Rose, der seinem Cello gern auch mal ein paar Stromstöße verpaßt, und den swingenden Schrottsammler WestBerlins: Schlag(er)zeuger Peter Hollinger. Die Gruppe ist noch nie zuvor in WestBerlin aufgetreten, unter anderem auch, weil die Auftrittsmöglichkeiten für Bands dieser Couleur hier immer schlechter werden. Trifft man Peter Hollinger leicht bekifft nach einem seiner furiosen Auftritte, schwärmt er von den alten Zeiten im Besetzer-Kulturzentrum »Kuckuck«, als man noch in jedem besetzten Haus eine begeisterte Zuhörerschaft für die wildesten Trommeleien auf alten Kotflügeln, Ofenrohren und anderem Metallschrott fand. Als man der beste Gitarrist Kreuzbergs sein konnte, obwohl man keine drei Griffe beherrschte... als die Musik noch auf der Straße lag und nicht im Konzertsaal. Wem die Einstürzenden Neubauten schon lange zu sozialdemokratisch reformistisch sind, kurzgesagt »Verhandlerschweine«, der sollte sich mitten in den Geräuschkampf ins Schlachthaus begeben — zu Slawterhaus.

Abgedriftet in den Audio-Cyber-Space sind die Audio Ballerinas. Auf einem Foto der Ballerinas am Strand der französischen Stadt Nizza achtet mann zunächst nur auf die hübschen Beine und den blauen Himmel, beim zweiten Blick fallen die gläsernen Röcke der Damen auf, die mit allerlei Elektronik und kleinen Lautsprechern bestückt sind. Aber lassen wir das Programmheft sprechen: »Was passiert wenn die Audio Schönen auf die Audio Biester treffen, wenn die Ballerinas mit ihren entzückenden Tutus, plastikleicht und sogar durchsichtig, aber gespickt mit feinsten tontechnischen Miniaturen — mit Digital-Demos, Mikrofonen, Looping-Modulen, Radio Empfängern, Walkmen, Mixern, Beeps & Boops — den Verfolgungen der wilden Guitar-Monkeys ausgesetzt sind, jener Gang gefährlicher Audionomer, die ihre eigene P.A. in der Lederjacke tragen.« Wie sagte es so schön der Protagonist in David Lynchs Blue Velvet: Es ist eine fremde Welt.

Entworfen wurde diese »Audio Oper« von Benoit Maubrey, der seit 1983 tönende Kleider entwirft. Fehlen nur noch die mit einem Computer verbundenen Handschuhe, um durch den selbst simulierten Cyberklangspace zu wandeln.

Die dritte Gruppe des Samstagabend- Eröffnungskonzerts der Urbanen Aboriginalen sind, Menschen die Musik machen: »Menschen machen Musik«. Über ihren mit genialer Schlichtheit gewählten Namen sagen sie: »Im Wirrwarr von vielen mehr oder weniger bekannten Bands sind vor allem solche Combos im Vorteil, deren Namen eine klare Aussage enthält: Menschen machen Musik.« Ob dieses Zitat allerdings wirklich von den »Menschen« ist, oder ob sie es, wie die anderen allumfassenden Anpreisungen ihrer »Musik« der Einfachheit halber aus einem Berliner Stadtmagazin (welches verraten wir nicht) abgeschrieben haben, entzieht sich unserer Kenntnis. Deshalb, besonders für die betreffenden Redakteure, hier noch eine Kostprobe aus dem doch immer wieder erstaunlich erfrischenden Vokabular des Musikjournalismus: »Menschen« — »das sind eine Handvoll schwungvoller Ersatz-Araber, deren lyrischer Lärm auch durch zahlreiche Stilsprünge nicht gleich verbrecherisch wird... pendeln wie hip-hoppelnde Acid-Pogo-Proleten mit ihrem Frühachtziger-Düsterpop ermüdend zwischen weinerlich und pathetischen Stimmungen hin und her, streuen in ihren harten Industrial-Rock großzügig abstoßend Techno Samples ein...«

»Menschen machen Musik« sind: Göttin Gala, Stimme und Drums; Manfred Effinger, Tasten & Stimme; Andreas Manthey, Posaune & Stimme; Jim Meneses, Drums. Oder auch so: »Menschen werden Töne mit geschlossenen Augen riechen.« Was noch?

Die Urbanen Aboriginalen werden fortgesetzt am Montag, Dienstag und Mittwoch. Am letzten Abend zieht man vom Ballhaus ins altehrwürdige, neueröffnete SO 36. Und wer könnte den lokalen Blick von dort schärfer hinaus in die Welt lenken als Caspar Brötzmanns Massaker? Ihm gebührt der letzte Gitarrenschrei des Eingeborenen-Festivals. Uuh-aaaah. Andreas Becker

Am Samstag um 20.00 Uhr eröffnen Audio Ballerinas, Menschen Machen Musik und Slawterhaus die Urbane Aboriginale im Ballhaus Naunynstraße.