■ Zur Geschichte der Ikonomanie

Diesmal jenseits des Grenzwalls zwischen hoffnungslos figurativer »Off«-Szene und hoffnungslos figurativer Kunstmeile. Die von allen Seiten kritisierte, trotzdem diesseits beneidetete und umworbenene »Kunst«-Meile, die nach Meinung der Diesseitigen mitsamt ihrem provinziellen Pragmatismus am besten geschlossen nach Nieder-Eschwingen umziehen sollte, nach Meinung der Jenseitigen endlich, endlich ihre wohlverdiente Chance bekommt, und sich ob ihrer Qualität beweisen darf. Inmitten dieser zwieträchtigen Zweckgemeinschaft, im geographischen Jenseits der Pariser Straße aber programmatischen Diesseits eröffnete Andreas Seltzer im Dezember 1989 die Galerie »Bilderdienst«, die keine Galerie ist. Seit einem Jahr zeigt er Ungewohntes und für hüben wie drüben Ungewöhnliches. Im besten Sinne des Wortes ist die Galerie dabei — im diesseitigen Sprachgebrauch fast immer falsch verstandener — Showroom, eben ein »Dienstleistungsunternehmen mit Bildern«.

Andreas Seltzer, Galerist, Projektor und Künstler in Personalunion, erstellt in seinem Ausstellungsraum Installationen zu unterschiedlichen Themen, hauptsächlich von ihm selbst, aber auch von Künstlerfreunden, deren verbindendes Glied der Beschäftigung mit Bildern ist. In der Eröffnungsausstellung kürte er ein Zeitungsfoto zum Tod des sowjetischen Außenministers Gromyko im niederländischen Handelsblad zum Bild des Jahres, in bester Tradition zu den peinlichen Sylvesterveranstaltungen wie Foto des Jahres, Tier des Jahres, Person des Jahres, Krieg des Jahres etc. etc., und arrangierte dazu ein Schreibpult mit Schreibutensilien in seiner Galerie. Ebenso die weiteren Ausstellungen wie »Anklams Universum« zum zeichnerischen Werk von Anklam, der über Jahrzehnte durch seine Zeichnungen sich der Welt habhaft gemacht hat, oder Wittgensteins Bilder, die Ludwig Wittgenstein nicht als zermürbenden Ontologen sondern als philosophierenden Photographen zeigte.

Am 16. November um 20.00 eröffnet der free-lance-artist Seltzer die Ausstellung Bureau of Identification. Die Ausstellung besteht aus einer Unzahl von Polizeiphotos, wie sie bei der Festnahme von Personen gemacht werden, und die von einem Polizisten (!) aus Chicago zwischen 1900 und 1930 gesammelt worden sind. Also zur wilden Zeit des organisierten Verbrechens, der Prohibition, der Nadelstreifenanzüge und der Kulisse für Manche mögen's heiß. Der von Seltzer klug gewählte Titel weist genau auf die ambivalente Anziehungskraft dieser Zeit hin, denn viel stärker als im englischen Sprachgebrauch steckt im Neu-Deutschen »Identifikation« sowohl das Wiedererkennen als auch das Sich- Indentifizieren, sich mit jemanden gleichstellen. Die Faszination von schießwütigen Gangstern ist ebenso an dem Erfolg der Krimis der Schwarzen Serie oder an Filmen wie Good Fellas* oder Taxi Driver erkennbar.

Dabei verfolgt Seltzer auch hier nicht die Absicht, nur der Lust am Bildmaterial zu frönen, sondern versucht durch Anordnung der Fotos, das zu offenbaren, was dahinter liegt. Er folgt dabei ganz seinem Programm einer experimentellen Didaktik. Thomas Sakschewski