Die Bundeswehr jagt 40.000 Berliner Männer

■ »Tausende von Einberufungen«/ »Racheakt« wurde zentral geplant/ Satirische Musterung und Jubelparade am Samstag Unter den Linden/ Die Beratungsstellen rotieren: So viele Ratsuchende wie nie zuvor wenden sich an sie

Bonn/Berlin. Die Bundeswehr zeigt im Hinblick auf Berliner Männer zynischen Jagdeifer. Bis zu 40.000 von ihnen, die nicht in Berlin aufgewachsen sind, stehen jetzt auf ihrer Fahndungsliste. Nach Aussage des Sprechers der »Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär«, Christian Herz, werden derzeit »tausenderweise Vorankündigungen zur Einberufung« von westdeutschen Kreiswehrersatzämtern in die ehemals knobelbecherfreie Stadt Berlin geschickt.

Mit einem »eindeutigen Racheakt« versuche die Bundeswehr »diejenigen, die ihnen abgehauen sind, jetzt noch zu kriegen«. Und im Gegensatz zu den warmen Worten, die Bundesverteidigungsminister Gerhard Stoltenberg (CDU) für nicht zur Bundeswehr gezogene Männer über 25 parat hatte, wird hierbei kein Pardon gegeben: Wer unter 32 Jahre alt ist und sich »unerlaubt aus dem Geltungsbereich des Wehrpflichtgesetzes entfernte«, der wird dieser Tage unerwünschte Post im Briefkasten haben. Dies gilt auch, wenn mann direkt nach der Erfassung nach Berlin (ehemals West) umgezogen ist.

Akut bedroht sind gegenwärtig 14.704 Berliner junge Männer, die das Pech haben, auf einer westdeutschen Erfassungsrolle zu stehen. Nach Informationen der Kampagne gibt es eine interne Anweisung des Verteidigungsministeriums in Bonn, schon im nächsten Jahr 11.000 zugezogene Berliner für zwölf Monate in Kasernen zu sperren — wesentlich beschaulicher dagegen laufen die Vorbereitungen, »Urberliner« unter Waffen zu stellen: Vermutlich erst 1992 werden die jungen Männer der Jahrgänge '72/'73 zum Töten ausgebildet.

Bei den Beratungsstellen in Berlin herrscht nun Gedränge: Bis zu 1.000 Rechtsberatungen erteilt allein die »Kampagne gegen Wehrpflicht« wöchentlich — mehr als je zuvor. Die rechtliche Konstruktion der Einberufung durch westdeutsche Ämter erscheint jedoch zwielichtig: Nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von '84 ist nämlich immer das am ersten Wohnsitz gelegene Amt für die Einberufung zuständig — und das ist in Berlin immerhin noch nicht arbeitsfähig. So schnell wie möglich sollen deshalb Präzedenzfälle vor Gericht gebracht werden.

Um der Wut der Bundeswehr Witz und Verstand entgegenzusetzen, wird am Samstag um 13 Uhr mit einer »satirischen Musterung« vor der Neuen Wache Unter den Linden die Abschaffung der Wehrpflicht gefordert. Extra angekarrt aus Bonn wird ein Dr. Gengele die anwesenden Männer auf Tauglichkeit befinden — die unangenehme Namensähnlichkeit zu jenem Auschwitz- Mengele ist von den Veranstaltern gewollt. Auf Teilnahme möglichst vieler Deserteure setzt die Kampagne, die ein Bündnis von über 60 antimilitaristischen Gruppen ist. In einer Jubelparade geht's dann zum Wittenbergplatz, wo um 15 Uhr unter anderem Andreas Groß aus der Schweiz reden wird — der Vorsitzende jener Initiative, die dort unlängst eine Abstimmung über die Abschaffung der Wehrpflicht durchsetzte. Joachim Schurig