: »Das Schrecklichste, was ich erlebt habe«
■ Ein Bewohner der geräumten Häuser in der Mainzer Straße über die Gewaltspirale/ Frauen brachten die Diskussion in Gang, Bewohner wollten sich schützen und nicht angreifen, die meisten haben die Militanz toleriert: »Es war Notwehr«
Friedrichshain. Die taz sprach mit dem 23jährigen Besetzer Jörg aus der Mainzer Straße. Jörg ist Schüler und wohnte bis zur Räumung am vergangenen Mittwoch ein halbes Jahr in einem der 13 Häuser. Der Name ist von der Redaktion geändert.
taz: Es kursiert das Gerücht, die militanten Besetzer in der Mainzer Straße hätten sich durchgesetzt, die letzten friedlicheren sollen ihre Koffer kurz vor der Schlacht am Montag dieser Woche gepackt haben?
Jörg: Das stimmt nicht. Wir haben die Gewaltdiskussion geführt — nicht als platte Gewaltfrage, sondern als Patriarchatsdiskussion...
...das heißt die Diskussion wurde von den Frauen angezettelt?
Die Frauen haben eigene Vollversammlungen abgehalten und Beschlüsse gefaßt, die die anderen hinnehmen mußten. Dadurch wurden die Grundlagen geschaffen, auf denen wir diskutieren konnten. Die Diskussion wurde auch durch die ständigen Angriffe der Faschisten und das Nichtreagieren der Polizei in Gang gesetzt.
Hatten die Frauen die Mehrheit in der Mainzer Straße?
Durch das Tuntenhaus haben mehr Männer bei uns gewohnt.
Wie war Euer Verhältnis zur Gewalt?
Auf jeden Fall defensiv. Wir haben unsere Fenster vergittert, wir haben keine Waffen gelagert. Wir wollten niemanden angreifen, sondern die Häuser schützen.
Galt das genauso für Polizeiübergriffe?
Nein — wir haben mit Polizeiübergriffen überhaupt nicht gerechnet. Wir haben erst in den letzten Wochen angefangen, uns darüber auseinanderzusetzen, ob es zu einer Räumung kommen kann. Obwohl wir uns eine Räumung nicht vorstellen konnten. Wir hatten die Häuser vor dem 24. Juli besetzt [Anm. d. Red: Der Magistrat beschloß damals, erst ab dann keine weiteren Hausbesetzungen zu dulden].
Wurde die Schlacht gegen die Polizei von allen mitgetragen?
Ein Großteil der Bewohner hat das toleriert. Es ging einfach darum, unsere Häuser, unser Hab und Gut zu verteidigen.
Haben alle aktiv mitgemacht?
Nein. Die meisten Leute können das gar nicht.
Der Friedrichshainer Bezirksbürgermeister Helios Mendiburu war zwei Stunden in den Häusern drinnen. Er hatte gehofft, die hergestellte Ruhe bleibt, aber er hat erzählt, die Verhandlungspause wurde von euch genutzt, Steine zu sammeln und die Gräben tiefer zu buddeln.
In den Häusern wurde nicht aufgerüstet. Es wurden lediglich weiter Barrikaden gebaut.
Mußte sich die Polizei nicht provoziert fühlen?
Die haben doch auch immer mehr Truppen rangezogen.
Für viele hat mit Eurer Schlacht die Gewaltspirale eine neue Qualität erreicht. Für dich auch?
Die Gewalt hat eine neue Qualität erreicht, weil die Polizei neue Waffen eingesetzt hat; Blendschockgranaten, die in Mogadischu eingesetzt wurden. Die machen ihre Opfer einige Sekunden taub und blind.
Bei bisherigen Räumungen in West-Berlin wurde sich auch verbarrikadiert, wurden auch Steine gebunkert. Es kam aber nicht dazu, daß die Polizei so heftig mit Molotow-Cocktails bombardiert wurde.
Die Leute haben verteidigt, was sie noch hatten.
Gab es Diskussion, als die Mollis abgefüllt wurden?
Ich weiß nicht, wo Mollis abgefüllt wurden, wo sie hergekommen sind — nur, daß sie geworfen wurden. Ich kann das emotional nicht verurteilen.
Hättest du es verhindern wollen?
(25 Sekunden Schweigen.) Es war eine Notwehrsituation.
Der nächste Schritt wäre, Polizisten zu erschießen. Wolltet Ihr die Militanz in dieser Schärfe?
Man darf sie auf keinen Fall höher treiben — auf beiden Seiten nicht.
Hast du selber mitgemacht?
Ich habe nicht mitgemacht, was daran liegt, daß ich große Angst habe. Ich habe Verletzte in die Häuser gezogen.
Gabs bei dir den Moment, wo du dachtest: »So nicht, am liebsten sofort Schluß mit der Schlacht, sofort hier raus«?
Ja, das ging aber nicht. Das war das Schrecklichste, was ich erlebt habe. Über Polizeifunk kam der Freibrief für die Beamten: Ihr habt freie Hand, macht was Ihr wollt. Dann siehst du sie vor deinem Fenster stehen, siehst was sie haben. Du bist ohnmächtig. Du weißt genau — auch wenn du Mollis einsetzt — du kannst damit nichts erreichen. Das hört sich vielleicht komisch an: Man kann versuchen, daß es durch Hinauszögern zu Verhandlungen kommt.
Wie geht's weiter, wo wohnt ihr?
Der Verein Mainzer Straße besteht. Es gibt Plena. Die meisten Leute sind obdachlos, wohnen zu zehnt oder zwanzig in irgendwelchen Wohngemeinschaften.
Mendiburu befürchtet, daß die militanten Besetzer, die in anderen besetzten Häusern unterkommen, dort die Bewohner unter Druck setzen, ihre Vertragsverhandlungen abzubrechen.
Auf keinen Fall.
Es haben ja auch Leute aus der Mainzer Straße eine Künstlergruppe, die verhandeln wollte, aus der benachbarten Scharnweberstraße herausgedrängt.
Die Leute haben vorher nicht bei uns gewohnt, zum Großteil kannten wir sie nicht. Wir haben sogar versucht zu schlichten, es sind ja genug andere Häuser leer. Aber beide Parteien waren nicht diskussionsbereit.
Werden die Bewohner der geräumten Häuser weiter eine gemeinsame Perspektive haben?
Was wir in der Mainzer Straße aufgebaut haben, haben nur sehr wenige besetzte Häuser geschafft — das kam natürlich auch durch den Zusammenhang von den Häusern: Die Volksküche, der Infoladen, der Kinderspielplatz, die einzige Schwulenkneipe in Friedrichshain...
Hast du vorher schon in einem besetzten Haus gewohnt?
Ja, aber solche guten Strukturen wie in der Mainzer Straße sind einfach unglaublich.
Plutonia Plarre/Dirk Wildt
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