„Wenden Sie sich an Herrn Gauck!“

Die neue Bundesbehörde zur Sicherung der Stasi-Hinterlassenschaften hat ihre Arbeit aufgenommen/ Die Regelungen des Einigungsvertrages sind unzulänglich/ Das informationelle Selbstbestimmungsrecht gilt für die Bespitzelten noch nicht  ■ Aus Berlin Götz Aly

Wenn Lothar de Maizière im Wahlkampf gefragt wird, „wo kann ich meine Stasi-Akte einsehen?“, dann pflegt er ebenso falsch wie nebulös zu antworten: „Wenden Sie sich an Herrn Gauck!“ Tatsache aber ist, daß der noch von der Volkskammer bestellte Sonderbeauftragte der Bundesregierung für die Stasi-Akten, Hans Joachim Gauck, niemandem „sein“ Dossier vorlegen darf. Entsprechend den Bestimmungen im Einigungsvertrag können lediglich Auskünfte erteilt werden.

Der neue Bundestag muß, auch das ist festgelegt, möglichst schnell ein Gesetz verabschieden, das den weiteren Umgang mit dem brisanten, gewissermaßen noch lebend-frischen Geheimdienstmaterial regelt. Damit wird auch der gesetzliche Rahmen für eine Benutzerordnung definiert werden. Bis dahin hilft sich die neue Bundesbehörde mit einer internen Arbeitsanweisung und einer vorläufigen Benutzerordnung, die sie noch im Dezember erlassen will.

Noch ist der neue Chef einer Obersten Bundesbehörde ein König ohne Land, ein Präsident ohne Apparat. Er und seine wenigen Mitarbeiter campieren im ehemaligen Haus der Parlamentarier in Ost-Berlin. Adresse: Sonderbeauftragter der Bundesregierung, c/o Deutscher Bundestag — Abwicklungsstelle Volkskammer, Am Werderschen Markt, Berlin-Mitte. Ein adäquates Gebäude für das neue Amt, in dessen Zentrale etwa 250 der insgesamt 981 bewilligten Beamten und Angestellten arbeiten werden, ist noch nicht gefunden. Das Bundesinnenministerium dringt darauf, die Behörde in der ehemaligen Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße unterzubringen. Nur Gauck wehrt sich mit Händen und Füßen. Es ist schlicht instinktlos, das neue Amt gewissermaßen in der alten Mielke-Suite zu etablieren. Gesucht wird ein Gebäude, dem nicht der Geruch des alten SED- Staates anhaftet.

Die Auftritte des mecklenburgischen Pfarrers Jochen Gauck wurden im geschäftig-alerten Bonn nicht ohne Häme betrachtet. Wie soll dieser Mann, der von Verwaltung, Rechtslage, Etatverhandlungen keine Ahnung hat, eine neue sogenannte Großbehörde aufbauen? Würde er nicht die leichte Beute der Ministerialbürokratie werden, die ihm und seinen Mitarbeitern einfach sagt, was geht und was nicht geht? Die Gefahr besteht nach wie vor.

Aber Gauck hat eine wichtige Schlacht gewonnen. Beim Westberliner Datenschutzbeauftragten hat er einen Verwaltungschef gewonnen. Darüberhinaus ist der 48jährige Dr.Hans Jörg Geiger seit vier Wochen sein engster Mitarbeiter. Zur Überraschung der fürsorglichen ministerialen Helfer fand Gauck diesen Mann jenseits der Bonner Empfehlungs- und Abordnungsschienen. Geiger kommt aus der Bayerischen Staatskanzlei. Der gelernte Staatsanwalt und Richter ist leidenschaftlicher Jurist, in München bearbeitete er Grundsatzfragen des Datenschutzes. Geiger ist in der Lage, die Wünsche Gaucks und seiner aus der Bürgerbewegung stammenden Mitarbeiter ins Ministerium-Hochdeutsch zu übersetzen. Er ist ohne Rückversicherung nach Berlin gegangen.

Schutzwürdige Belange

Beamte wie Geiger werden gebraucht, um die im Einigungsvertrag festgeschriebene Unabhängigkeit der neuen Behörde auch personell abzusichern. Geiger steht — und eben deshalb holte ihn Gauck — für die Grundüberzeugung, daß gesellschaftlicher Friede nur dann möglich sein wird, wenn diejenigen, die von der Stasi bespitzelt, verfolgt und überwacht wurden, wirklich alle sie persönlich betreffenden Daten in den Personendossiers der Stasi einsehen können. Dabei dürfe kein Spitzel, kein Zuträger geschont werden. Geschont werden sollen lediglich die „schutzwürdigen Belange Dritter“. Das sind aber nach der Auffassung Gaucks und Geigers im wesentlichen die Daten, die in einer Akte über andere Privatpersonen — Ehefrau, Freunde, Kinder etc. — gespeichert sind. Auf gut deutsch: Die Intim- und Privatsphäre einzelner, gleichzeitig und gemeinsam von der Stasi beobachteter Menschen soll geschützt bleiben. Grundlage für diese erst noch gesetzlich zu verankernde sehr weitgehende Regelung sind die Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes und das daraus vom Bundesverfassungsgericht abgeleitete Recht auf informationelle Selbstbestimmung aller BürgerInnen. Damit ist aber nach Ansicht Geigers auch schon der Rahmen für eine künftige Lex-Stasi verfassungsrechtlich vorgegeben. Zu prüfen ist aber unter Umständen auch, ob die eher restriktiven Regelungen des Staatsvertrages nicht jetzt schon gegen das Grundgesetz verstoßen. Diese Regelungen wurden damals auf Druck der Ostberliner Regierung unter dem Motto „wehret der Lynchjustiz“ in den Staatsvertrag aufgenommen — im höchst eigenen Interesse des damals noch existenten Staatsapparates der DDR.

Unklar ist noch, wie der im Staatsvertrag vorgesehene Beirat der neuen Behörde personell besetzt werden soll. Es sind zwei Varianten in der Diskussion: Die eine beinhaltet parteipolitischen Proporz, die andere — keineswegs aussichtslose Möglichkeit — sieht eine Besetzung des Beirates entsprechend fachlicher und moralischer Kompetenz vor.

Historische Forschung

Zur Zeit ist es noch nicht möglich, die Geschichte der DDR, die Rolle einzelner Personen und Institutionen mit Hilfe der Stasi-Akten aufzuklären. Offenkundige Schwierigkeiten haben die Bürgerkomitees ebenso wie Jochen Gauck auch mit ihren Vorstellungen für die künftige historische Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit. Bis zuletzt gingen ihre Pläne davon aus, innerhalb der neuen Bundesbehörde Planstellen für Historiker zu schaffen. Sie sollten selbständig Akteneditionen vorbereiten und einzelne Forschungsthemen bearbeiten. Dem steht entgegen, daß gerade eine solche Forschung nicht die Aufgabe der staatlichen Exekutive ist. Ein Archiv ist immer eine dienende Einrichtung. Es erschließt die Akten, macht sie leicht zugänglich und hält sie zur Bearbeitung von Fragestellungen bereit, die an ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Orten entwickelt werden. Nun geht es für die Anti-Stasi-Aktivisten zweifelsohne auch um Geld für die Fortsetzung ihrer Aufklärungsarbeit. Dazu sollte, so ist im Bundesarchiv zu hören, eine von der Gauck-Behörde unabhängige Stiftung gegründet werden, die eben solche Arbeiten und Forschungen fördert — und zwar möglichst schnell. Grundlage dafür könnte das Bundesarchivgesetz sein, das die Aufhebung der Sperrfristen für Akten schon jetzt ermöglicht und das den Begriff der Person der Zeitgeschichte sehr weit definiert. Dieser Begriff umfaßt die in staatlichem Auftrag handelnden Personen. Was diese in amtlichem Auftrag schrieben, unterliegt weder einer Sperrfrist noch dem Datenschutz!

(Interview S.10)