Es wiederfinden

■ Pressekonferenz mit Jean-Luc Godard, im Berliner „Quartier“, zum Filmstart von „Nouvelle Vague“. Es dolmetschte Hanns Zischler

Zu den Zitaten im Film. Für mich besteht der Film nicht nur aus Zitaten. Ich versuche, eine Balance herzustellen zwischen literarischen Zitaten, sprachlichen Zitaten also und Zitaten aus der Natur. Es gibt in diesem Film das Zitat des Wassers, das Zitat der Baumes usw. Im Französischen sagt man, wenn ein Soldat gefallen ist, er wird in den Rang der Nation zitiert. Im Sinne dieser Redewendung zitiere ich in diesem Film: Es gibt in der Geschichte der Ideen, in der Geschichte der Liebe, in der Geschichte der Literatur Vorbilder von Gestorbenem, von Verstorbenem, die es verdienen, in den Rang des Kinos zitiert zu werden. Ich hätte es natürlich auch anders machen und so wie der Dichter die Dinge und die Wesen anrufen können: Das ist das Tier, das dieses macht, das ist das Mädchen, das jenes macht usw. Aber mit Rücksicht und einer gewissen Sorge um das Publikum habe ich lieber zitiert.

Man sagt ja auch von einem Zeugen, daß er vor Gericht zitiert wird. Im Film ist das ein ganz ähnlicher Vorgang: die Dinge, die Sprache werden in oder vor den Film zitiert, und das Publikum ist der Richter. Die Arbeit des Cinéasten bestand für mich immer darin, die Dinge herbeizuzitieren, ihr Erscheinen zu verlangen, wie ein Untersuchungrichter die Zeugen auffordert zu erscheinen und sie dann unterweist, was ihre Aussagemöglichkeit angeht. Ich meine das Herbeizitieren also wörtlich, nicht metaphorisch.

Das Geld und das Kino. Die interessantesten Augenblicke beim Filmemachen sind die, wo es darum geht, das Geld zusammenzukriegen. Man kommt dann mit Menschen zusammen, die mit dem Kino nichts zu tun haben. Für mich sind die Ideen aufs engste und innigste verbunden mit der Farbe des Geldes, das man mit ihnen verbindet. Ich habe nie davon geträumt einen Film zu machen, von dem ich träume, ich habe immer nur die Filme gemacht, für die ich Geld finde, so wie ich abends nicht in irgendein Restaurant gehen kann, sondern nur in bestimmte Restaurants nach Maßgabe des Geldes, das ich in der Tasche habe. Viele Leute haben an meinen Filmen Geld verdient. Ich habe immer auf Kosten des Films gelebt, so wie man sagt, daß man auf Kosten des Feindes lebt. Von Rossellini habe ich gelernt, daß, wenn man einen Film für zehn Francs machen möchte, man ihn nicht machen sollte, denn die Produktion wird einen zwingen, daraus einen Film für zwanzig Francs zu machen. Von diesen zehn Francs muß man umgekehrt einen Film für nur zwei Francs machen, damit man von den restlichen acht Francs leben kann. Ich habe immer arme Filme gemacht und für mich war diese Armut der Reichtum.

Das Verstehen von Bildern. Im Vergleich zu anderen Filmen, die ich gemacht habe, finde ich diesen Film ziemlich verständlich, sofern man unter Verständlichkeit eine Projektion von Bild und Ton versteht. Wenn ich dagegen die Nachrichten im Fernsehen sehe, verstehe ich überhaupt nichts. Man sieht zum Beispiel ein Kriegsschiff. Gleichzeitig höre ich eine Stimme, die sagt: „George Bush“. Wenn das im klassischen Sinn verständlich sein soll, muß ich verstehen, daß der Name dieses Schiffes George Bush ist. Es ist also ein extrem abstraktes Bild im Fernsehen. Das ist, wie wenn die Polizei Sie nach Ihrem Namen fragt, und Sie zeigen ein Schiff. Im Zeitalter der sehr fortgeschrittenen Technologie und Kommunikation sind Bilder entwickelt worden, die außerordentlich komplex und abstrakt sind, und doch sagt man nie: Ich habe das nicht verstanden. Wenn — wie in meinem Film — ein Mann einer Frau die Hand reicht und die Frau die Hand nimmt und eine Stunde später die Frau dem Mann die Hand reicht und der Mann die Hand nimmt und man hört, daß er bzw. sie sagt: Das bist du, dann gilt das als verständlich. Wenn nun aber ein Hundegebell oder ein Windesrauschen dazukommt, sagt man: Das verstehe ich nicht. Das sind die Bilder, die wir machen. Ob sie verständlich sind, bleibt dahingestellt, aber ich mache sie.

Die Zukunft des Kinos. Ich bin pessimistisch, weil zumindest in Westeuropa die geistig fähigen Menschen immer weniger Möglichkeiten haben, etwas zu verwirklichen. Optimistisch bin ich, weil man in dieser Situation kämpfen muß. Ich glaube nicht, daß ich in der Lage bin, das zu verwirklichen, was dem Kino tatsächlich weiterhelfen könnte. Es kommt heute nicht mehr darauf an, einen Zug in einen Bahnhof einfahren zu lassen, wie in der Szene, mit der die Filmgeschichte begann. Das macht heute keinem mehr Angst. Aber es kommt darauf an, daß, wenn ein Mann eine Frau umarmt, der Eindruck entsteht, es sei das erstemal. Pessimistisch bin ich, weil die Filme, die ich liebe, diesen Eindruck des Ersten-und-letzten-Mals vermitteln. Und diese Filme gibt es schon. Ich habe zum Beispiel nicht Goethes Stück gelesen und dann Murnaus Film gesehen, sonden ich habe „Faust“ von Murnau gesehen und mich gefragt, woher diese Kraft kommt. Die drei oder vier Wilden vom Anfang der Nouvelle Vague haben Filme so gesehen: Als sei es das erstemal.

Den Film gab es immer dann, wenn er eine Identität mit dem Land hatte, aus dem er stammte. Das war bei den deutschen Filmen genau zu der Zeit der Fall — nach dem Ersten Weltkrieg —, als Deutschland seine Identität verloren hatte und eine neue suchte. Es gab das russische Kino in genau dem Moment, als es eine Revolution, einen Umsturz gab, wie man es damals nannte, und man eine neue Identität suchte. Diese Epoche der Suche, der Suche des Landes nach seinem Bild, hat allerdings nicht sehr lange gedauert, die Suche war schnell beendet. In Italein gab es das nach dem Zweiten Weltkrieg: das Land hatte seine Identität verloren, und es gab den italienischen Surrealismus. Im französischen und amerikanischen Kino lief das etwas anders, dort gab es nie einen so engen und klaren Bezug zur Identitäskrise. Die anderen westlichen Länder haben kein Kino, es gibt nicht den spanischen, den schwedischen Film. Natürlich gibt es schwedische Filme, es gibt Stiller, Sjöström, Ingmar Bergman, einzelne Filme von einzelnen Filmemachern. Man darf den Film nicht mit Filmen verwechseln, so wie man die Mathematik nicht mit Gleichungen verwechseln darf.

Die beiden Deutschlands. Für mich ist das wie eine Familiengeschichte, eine Geschichte zwischen zwei Geschwistern, die zusammenkommen. Als Heranwachsender habe ich eine Neigung zur deutschen Literatur gefaßt, vor allem zur deutschen Romantik. Ich gehöre zu den wenigen Franzosen, die Novalis' Heinrich von Ofterdingen, gelesen haben oder Bettina von Armin, und heute frage ich mich, zu welchem Deutschland gehört Novalis? Ich möchte einen Film machen über die Einsamkeit, aber mich interessiert nicht die Einsamkeit von Menschen sondern die Einsamkeit eines Volkes. Ich möchte jetzt einen Film machen über die Einsamkeit Ostdeutschlands. Zwar ist Ostdeutschland rein semantisch heute verschwunden, aber es existiert ja. Aus der Biologie habe ich gelernt, daß jede Zelle davon träumt, zwei zu werden. Das ist die Geschichte der Menschheit. Die Staaten dagegen träumen immer davon, einer zu werden. Den Vertrag für diesen Film habe ich schon unterschrieben. Wo ich ihn drehen werde, weiß ich nicht, denn ich weiß nicht, wo Ostdeutschland liegt.

Pressekonferenzen. Früher dachte ich, da die Journalisten bei den Pressekonferenzen, Menschen sind, die ich nicht kenne, sie seien meine Feinde. Deshalb habe ich provoziert. Heute ist es eher so, daß ich unter dieser Situation ein bißchen leide. Eigentlich sollen Filme sich selbst genügen. Weil meine Filme niemand sieht, müssen Pressekonferenzen gemacht werden.

Kino ist nicht mehr das, was es war oder hätte sein können, weil die Saurier verschwunden sind. Die Studenten fragen mich oft, warum erzählen Sie keine Geschichten? Stellen Sie sich vor, Sie sollten die Geschichte dieses Donnerstags einem guten Freund erzählen. Sie könnten erzählen, wie Sie aufgestanden sind, sich gewaschen, die Zähne geputzt, gefrühstückt haben, zur Pressekonferenz mit Godard gegangen sind und ein Taxi genommen haben. So werden Geschichten erzählt — wie in einem Polizeibericht. Mit Ausnahme von ganz wenigen großen Filmen. Wenn Sie Emma Bovary wären, wüßten Sie, daß Flaubert acht Jahre brauchen wird, um die Geschichte eines Tages zu erzählen. Ich würde gerne meinen Tag erzählen, bevor ich über den Jordan gehe. Man weiß, daß Kunst — van Gogh, Mozart, ein großes Ereignis, die Vereinigung —, nicht das ist, was man sagt, daß es ist. Das Kino, als es noch geliebt wurde, hat aus uns einmal Könige für diesen einen Tag gemacht und mußte nicht wie Shakespeare die Könige erfinden.

Frage: „Sie haben gesagt, das Kino ist eine verlorene Sache. Was wollen Sie tun?“

Antwort: „Es wiederfinden.“

aufgezeichnet von chp