piwik no script img

“Die Hälfte der Bremer Juden wurde ermordet“

■ November 1941: Bremer Juden nach Minsk deportiert / Dokumentation der Gedenkrede von Klaus Wedemeier

Von den 1.314 Juden, die 1933 in Bremen lebten, ist die Hälfte ermordet worden. Die ersten fünf Opfer aus Bremen starben in der Pogrom-Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. Am 29. Oktober 1938 wurden 80 Juden polnischer Staatsangehörigkeit aus Bremen deportiert. Ihre Spuren verlieren sich in den Ghettos und Vernichtungslagern Osteuropas. Am 18. November 1941 wurden 570 Juden nach Minsk deportiert und dort ermordet, davon waren 440 aus Bremen und 130 aus dem Regierungsbezirk Stade. Am 23. Juli 1942 wurden bei einer weiteren Deportation 160 Juden verschleppt, die fast alle in Theresienstadt und in Auschwitz ermordet wurden. Am 14. Februar 1945 ging ein letzter Transport von etwa 90 Juden aus Bremen nach Theresienstadt, von denen die meisten überlebten.

Im Oktober und November 1941 erhielten die Juden aus Bremen Schreiben, in denen ihre Evakuierung nach Osten angekündigt wurde. Man teilte ihnen mit, sie würden dort gebraucht, um die ausgebombten und ausgebrannten Städte wieder aufzubauen. In diesem Schreiben wurde der Tag der Deportation genannt; die Wohnungsschlüssel sollten der Polizei ausgehändigt, die Wohnungen nicht verkauft oder beschädigt werden. Jedes Familienmitglied könne einen Koffer mitnehmen, der 50 Pfund Kleidung, Bettwäsche und Schuhe enthalten dürfe.

Bei dem Transport waren 63 Kinder dabei.

Der Abtransport der Bremer Juden vollzog sich von der Bevölkerung weitgehend unbemerkt. Aus den einzelnen Judenhäusern, so nannte man die Häuser, in denen Juden wohnen mußten, wurden die Menschen in kleinen Gruppen zum Hauptbahnhof gebracht. Die Tageszeitungen berichteten nichts darüber. Der einzig bekannte Protest kam von der Gemeinde St. Stephani Süd und bezog sich auf die getauften Juden, die dieser Gemeinde angehörten. Pastor Gustav Greiffenhagen und einige Gemeindeglieder hatten eine Sammelaktion gestartet, die den verarmten Juden Kleidung und Wäsche bringen sollte. Zehn Personen wurden wegen dieser Aktion kurzfristig verhaftet. Am Reformationstag, am 2. November 1941, wurde ein letztes Mal zusammen mit den vor dem Abtransport stehenden jüdischen Gemeindegliedern ein Gottesdienst gefeiert. Pastor Greiffenhagen schloß die jüdischen Brüder und Schwestern namentlich in das große Fürbittegebet ein und bestimmte die Kollekte für sie. Vor dem Gemeindehaus verabschiedete man sich, und eingehakt begleiteten einige Frauen die Menschen mit dem Judenstern über den Kirchhof nach Hause.

Pastor Fischer hatte von seinem Fenster aus alles verfolgt und machte, wie er schrieb, „beleidigt in meinem deutschen Ehrgefühl“ der Gestapo Meldung. Die Denunziation hatte Folgen. Greiffenhagen durfte sein Amt nicht mehr ausüben.

Die für Minsk bestimmten Bremer Juden wurden am 18. November in Güterwagen verladen. Die Fahrt in den ungeheizten Wagen dauerte drei Tage und vier Nächte.

Minsk war nach dem Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 schnell erobert und zerstört worden. Von den ursprünglich 300.000 Einwohnern waren noch etwa 100.000 in der Stadt. Über 100.000 Juden waren im Ghetto zusammengedrängt.

Bei der Ankunft wurden die deutschen Juden aus den Waggons getrieben und mußten sich auf den Weg machen ins Ghetto am anderen Ende der Stadt. Die zerstörte Stadt erschien den Angekommenen menschenleer. Im Ghetto selbst sahen sie Hunderte von Leichen, auf den Öfen und den Tischen stand noch das Essen. Um Platz für die deutschen Juden zu schaffen, wurden vom 7. bis 11. November viele tausend russische Juden erschossen. Am 20. November, kurz vor der Ankunft der Bremer Juden, wurden noch einmal 7.000 russische Juden ermordet. Die Deutschen mußten die mit den Ermordeten übersäten Plätze und Häuser reinigen und konnten anschließend in diese Häuser einziehen.

Der Winter 1941 war mit vierzig Grad minus und viel Schnee extrem kalt. Güterwagen und Lastwagen mußten auf- und abgeladen, Wege und Gebäude gereinigt, die Eisenbahngleise von Eis und Schnee freigehalten werden. Viele erfroren dabei oder kamen mit Frostbeulen und Lungenentzündung zurück. Die Juden waren nicht imstande, ihre Toten zu begraben. Der Boden war zu tief gefroren.

1941 hatte sich Himmler nach Minsk begeben. Dort bat er den Kommandeur, eine Gruppe von hundert Personen erschießen zu lassen, damit er einen Endruck davon erhalte, wie diese „Liquidierungen“ in der Praxis abliefen. Nach der Erschießung befahl er Nebe, sich durch den Kopf gehen zu lassen, ob es nicht humanere Tötungsmethoden gäbe. Auf diese Anregung hin wurden Gaswagen hergestellt. Die technische Abteilung des Reichssicherheitshauptamtes ließ eine Lastwagenkarosserie so umbauen, daß die Abgase mit Hilfe eines Schlauchs ins Wageninnere geleitet werden konnten. Jedes Fahrzeug konnte 60 bis 70 zusammengepferchte Opfer aufnehmen. In Minsk waren ab Januar 1942 zwei Gaswagen im Einsatz. Es wird berichtet, daß diese Gaswagen im Ghetto vorfuhren, daß die Menschen in Nachthemden und ohne Schuhe auf die Straße getrieben wurden, dann die Wagen gefüllt und verschlossen wurden und aus dem Ghetto herausfuhren. Die Fahrt endete vor den Massengräbern außerhalb von Minsk. Während die Todeswagen unterwegs waren, mußten die aus den Häusern Getriebenen warten, bis der Wagen zurückkam.

Es wird weiter berichtet, vom Einsatz der Gaswagen direkt an der Bahnstation: Sobald ein neuer Transportzug eingelaufen war, konnten die Insassen ihn ruhig und ungestört verlassen. Zu ihrer Verwunderung wurden sie weder angeschrien noch gehetzt. Man fuhr sie mit den Lastkraftwagen zu einer Wiese, wo Wohnwagen bereitstanden. Die Wohnwagen hatten aufgemalte Fenster, Gardinen, Fensterläden sowie einen Schornstein. Wenn der Wagen voller Menschen war, daß niemand mehr hineinging, wurden die eiserenen Türen zugeschlagen, dann wurde der Motor angelassen und das Auspuffrohr brachte das tödliche Gas. Die Chaffeure ließen den Motor auf höchsten Touren laufen, um die Gasausfuhr zu bechleunigen und das Schreien zu übertönen.

Das Eigentum der vergasten oder erschossenen Juden wurde zurück nach Deutschland transportiert mit der weithin sichtbaren Aufschrift: „Spende der weißrussischen Bevölkerung für das deutsche Volk.“

Am 28. Juli 1942 wurde als Vergeltung für das Attentat auf Heydrich unter den Lagerinsassen ein Massaker angerichtet. Der Generalkommissar berichtete: „In Minsk-Stadt sind am 28. und 29. Juli 1942 rund 10.000 Juden liquidiert worden, davon 6.500 russische Juden — überwiegend Alte, Frauen und Kinder. Der Rest bestand aus nicht einsatzfähigen Juden, die überwiegend aus Wien, Brünn, Bremen und Berlin im November vorigen Jahres nach Minsk geschickt worden sind.“

Vor neun Tagen haben wir die Öffnung der Mauer und damit das „neue Deutschland“ gefeiert. Viele haben dabei den 9. November vergessen, an dem vor 52 Jahren Juden in Bremen und in ganz Deutschland ermordet wurden. Kein Feiertag der Freude in dem geeinten Deutschland soll unsere Erinnerung verdecken und verdrängen. (...) Klaus Wedemeier

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen