Im Dezember wird geerntet

Zwei Wochen vor der Gatt-Ministerrunde in Brüssel demonstrierten auch in Argentinien Tausende von Bauern und Bäuerinnen/ Wie sich durch das Preisdumping von EG und USA auf dem Weltmarkt ihr Einkommen verringert — Dollar für Dollar  ■ Von Gaby Weber

Ein „Ende des Bauernsterbens“ und „Schluß mit der Kapitalflucht“ forderten am Mittwoch fünfzehntausend Landwirte. Mit ihren Traktoren und Erntemaschinen waren sie zu insgesamt 25 örtlichen Demonstrationen angerattert, hatten Überlandstaßen blockiert und Autoreifen sowie Weizenhaufen verbrannt. Zentrum des Protests waren die Kleinstädte Tres Arroyos in der Provinz Buenos Aires und Leones in Córdoba, wo jährlich die Weizenkönigin gekrönt wird. „Statt Kriegsschiffe in den Golf — Hilfe für die Produzenten im eigenen Land“, hieß es in Sprechchören. „Wir machen keine Politik und keinen Wahlkampf“, schallte es von der Tribüne, „wir sind nur Bauern und haben von Korruption und falschen Versprechungen die Nase voll.“

Veranstalterin war der Bauernverband Federación Agraria Argentina (FAA), der mittlere und kleine Landwirte vertritt und als Genossenschaft seinen Mitgliedern mit billigen Krediten und beim Verkauf der Ernte hilft. Die Basis ist konservativ, aber heute zwingen die Umstände, auf der Straße zu rebellieren. „Uns steht das Wasser bis zum Hals, viele Landwirte werden in den nächsten Wochen bankrott machen“, fürchtet FAA-Sprecher Ren Bonnetto.

Die argentinische Ernte feiert in diesem Jahr neue Rekorde — ganz so, wie die Regierung es beabsichtigt hat, als sie zum verstärkten Weizenanbau aufgerufen hatte. Doch die Ernte wird sich kaum absetzen lassen. Hauptproblem ist die Preisdrückerei der Industriestaaten. Die USA haben in diesem Jahr 40 Prozent mehr Weizen geerntet. Sie raten den Argentiniern, auf Melonenanbau umzusteigen, und lassen sich von der EG in einen Subventionskrieg verwickeln. Um die Weizen-Überproduktion der EG absetzen zu können, drückt Brüssel den Export mit Milliarden herunter und unterbietet alle anderen Angebieter. Das Resultat sind Dumpingpreise auf dem Weltmarkt. Innerhalb eines Jahres fiel der Preis für eine Tonne Weizen von 150 Dollar auf die Hälfte.

Der Agronom Bonnetto rechnet vor: Für eine Tonne Weizen erhält der argentinische Produzent bestenfalls 80 Dollar; das ist der „fob“- Preis, „free on board“, also der Preis beim Ablegen des Frachters. Abzüglich aller Nebenkosten für die Beladung des Schiffes werden ihm 68 Dollar gezahlt. Davon muß er die Unkosten für den Verkauf abziehen: die Kommission für die Genossenschaft, die Be- und Entladung der Lastwagen, die Steuern und den Transport bis zu den Silos. Die Transportkosten sind in den letzten Jahren explodiert, und rechtzeitig zur diesjährigen Ernte hat die Regierung die Landstraßen und die wichtigsten Eisenbahnlinien privatisiert. Der Landwirt muß in Zukunft Straßenbenutzungsgebühr entrichten. Nach diesen Abzügen bleiben dem Bauern noch 48 Dollar pro Tonne übrig.

Davon gehen noch die Kosten für das Saatgut ab, das in den Händen weniger Multis liegt und immer teurer wird. Während die Inflation weiter galoppiert, hat der Dollar um die Hälfte an Kaufkraft eingebüßt. Dann müssen Arbeitskräfte für den Ernteeinsatz bezahlt werden sowie Düngemittel. An letzterem wird gespart; die Erde der feuchten Pampa mit ihren legendären zwei Meter Humus erlaubt eine Bewirtschaftung ohne viel Chemie. Doch die Bodenproben der letzten Jahre geben Anlaß zur Besorgnis, sagt Agronom Bonnetto. Statt zu düngen oder einen Teil des Feldes brach liegen zu lassen, wurde unermüdlich weitergepflanzt, und es mehren sich die Anzeichen der Auslaugung. Um einen Zentimenter Humus zu erzeugen, sind 100 Jahre erforderlich.

Unter dem Strich bleiben dem Bauern noch 25 Dollar pro Tonne übrig. Wer noch Pacht zahlen muß — üblicherweise 30 Prozent vom Erlös —, ist schon pleite.

Aber auch die Landeigner haben nicht viel mehr Zukunft. Ein Bauer in der feuchten Pampa besitzt durchschnittlich um die 250 Hektar. Pro Hektar kann er zwei Tonnen Weizen produzieren, das macht 500 Tonnen im Jahr. Multipliziert mit 25 Dollar kommt er auf einen Jahresgewinn von 12.500 Dollar, umgerechnet 18.750 DM. Davon müßte er neue Maschinen anschaffen, sein Auto finanzieren und die Familie ernähren. Das Leben am Rio de la Plata ist aber teurer als in Westeuropa. Ein Mittelklassewagen kostet 30.000 DM, ein Liter Benzin 1,50 DM.

Viele Bauer verlassen ihr Land, weil sie mit der Produktion von Lebensmitteln auf keinen grünen Zweig mehr kommen können. Lukrativer ist es, Grund und Boden zu verkaufen und von den Zinsen zu leben. Für seine 250 Hektar Land in der feuchten Pampa bekommt der Bauer umgerechnet 1,1 Millionen DM. Wenn er die in der Landeswährung umtauscht, kann er zweistellige Zinsbeträge monatlich kassieren. Aber selbst wenn er, um sicher zu gehen, sein Kapital in harter Währung anlegt, bekommt er jährlich mindestens 135.000 DM bar auf die Hand, ohne sich dafür den Buckel krumm zu schuften und sich den Kopf über die Brüsseler Preispolitik zu zerbrechen. Der Bauer bewegt damit eine Menge Geld, aber nur auf dem Papier. Er spekuliert, aber er produziert nicht mehr. Er selbst wird reicher, aber das Land wird ärmer.

Der bankrotte Pächter hingegen wird gewaltsam vom Land vertrieben. Seine Alternative sind die Elendsquartiere der Städte. Die FAA hat ihren Sitz in Rosario, in der Provinz Santa Fe, am Rande der feuchten Pampa. Schon jetzt platzt die einst gemütliche Kleinstadt aus den Nähten. Die Stadt ist umzingelt von einem Gürtel von Slums. Dort wohnen die Menschen, die vom Land in die Stadt geflüchtet sind. Laut offizieller Statistik liegt die Arbeitslosigkeit bei 28 Prozent, und von den 1,2 Millionen Bewohnern leben fast 40 Prozent in Slums.

Im vergangenen Jahr war Rosario das Zentrum der Plünderungen: Supermärkte und große Geschäfte wurden innerhalb weniger Tage von den Armen leergeräumt. Seitdem stehen Wächter bewaffnet in den Verkaufshallen, inzwischen nur noch in Zivil und nicht mehr, wie in den ersten Wochen, mit Schnellfeuergewehren auf den Dächern. „Hier wird ein Pilotprojekt hochgezogen, ein Planspiel der Repression für einen Konflikt der niedrigen Intensität“, glaubt Ramón, Mitarbeiter in einem Stadtteilzentrum.

Aus dem ganzen Land wurden Gendarmerie, Wasserschutzpolizei und Bundespolizei nach Rosario abkommandiert. Ramón wohnt in einem bürgerlichen Stadtteil mit kleinen Einfamilienhäuschen. Jede Nacht um 22 Uhr baut sich an der Kreuzung der Wächter auf, ein pensionierter Polizist, und überwacht zwei Blocks. Die Nachbarn zahlen für diesen Service zum Schutz gegen Diebe und Räuber jeweils umgerechnet zehn DM täglich. Der Apotheker an der Ecke weigerte sich, aber nachdem ihm mehrere Male die Fensterscheiben eingeworfen wurden, hat er sich in das Schicksal gefügt.

In den letzten Monaten wurden keine Supermärkte mehr geplündert. Der neue Bürgermeister, ein gemäßigter Sozialist, verteilt unermüdlich Lebensmittelspenden über Schulkantinen und Volksküchen. Früher gab es Milch, heute nur noch Maismehl und getrocknete Erbsen. Das reicht, um das Hungergefühl zu unterdrücken, wenigstens an Wochentagen, wenn die Kantinen für die Armenspeisungen geöffnet sind. Samstag und Sonntag muß der Gürtel enger geschnallt werden.

Im Dezember wird die Ernte eingefahren werden. Noch haben die Bauernverbände keine Strategie, wie sich ihre Mitglieder verhalten sollen. Die meisten Landwirte hoffen, daß sich der Preis erholt, und wollen solange ihre Ernte in Silos aufbewahren. Aber nur eine Handvoll Großbauern hat das nötige Kapital, um eine lange Durststrecke zu überstehen. Die meisten werden wohl zum Dumpingpreis verkaufen. Andere wiederum werden den Weizen an die Rindviecher verfüttern. Einige werden aber auch, prophezeit FAA-Agronom Bonnetto, aus Protest ihre Ernte verbrennen. Dann werden demnächst die Rauchwolken aus den Feldern steigen und über die Slums von Rosario hinwegziehen.

Womit, wieder einmal, die Überlegenheit des kapitalistischen Modells eindeutig bewiesen wurde.