Eine Kandidatin mit Vergangenheit

■ Renate Tepper möchte am Sonntag für die PDS ins Landesparlament gewählt werden/ Vor 14 Jahren verpfiff sie Wolfgang Thierse/ Doch im Vergleich zu ihren alten Genossen ist sie geläutert

Berlin. Da sitzt sie nun im Jugendclub am Antonplatz und notiert sich die Reizwörter der alten Genossen. Vom Kapital ist viel die Rede, mehr noch von Angst, manchmal von Schuld. Knapp 20 alte Kommunisten hocken um Tische herum und starren in ihre Pappbecher, gefüllt mit Kaffee. Der ist so schwarz, wie die Zukunft ihnen scheint: Alle werden arbeitslos, die Preise steigen, die Renten bleiben lächerlich klein. Das alles, so scheint es, würden sie tragen, wäre da nicht die Sache, an der man nicht vorbeikommt: Wir haben verloren. Die anderen haben gewonnen. Jetzt wollen sie uns ans Leder. Schlimmer noch: »Es gibt kein echtes Argument gegen all die Anschuldigungen, die ständig gegen die SED erhoben werden!« ruft ein Rentner verzweifelt, der 40 Jahre lang den Sozialismus aufgebaut hat. Sie weiß auch keins. Ihr Name: Dr. Renate Tepper, 50 Jahre, verheiratet, Weißenseer Direktkandidatin der PDS für das Abgeordnetenhaus.

»Ich bekenne mich zu dieser Schuld!« erklärt sie den Besuchern des »Linken Wahltreffs«, zu dem für Samstag vormittag geladen war. Bekennen: gestehen, als Überzeugung aussprechen, definiert das Herkunftswörterbuch des Duden das Verb. Renate Tepper, die vor 20 Jahren in die SED eintrat, hat vor 14 Jahren den jetzigen SPD-Vize-Vorsitzenden Wolfgang Thierse verpfiffen. Sie hat mit ihm im Kultusministerium der DDR gemeinsam in einer Amtsstube gehockt und seine abfälligen Bemerkungen über die SED- Politik in Sachen Biermann-Ausreise schriftlich dem Abteilungsleiter Fritz Donner übergeben. Das war Mitte November 1976. Zwei Wochen später mußte Thierse nach einem Auflösungsvertrag seine Sachen packen. »Als Mensch ist es mir sehr schwer gefallen, als Genossin war es meine Pflicht«, hat sie ihm damals gesagt. Nicht von sich aus: Thierse war dahintergekommen, wer ihn denunziert hatte und stellte seine Kollegin zur Rede. »Ich bereue das wirklich«, sagt sie heute. Sie sagt das nicht vor versammelter Mannschaft. Die wissen von dem Vorfall nichts. Sie sagt das Wolfgang Thierse nicht in einem persönlichen Gespräch, obwohl der Sozialdemokrat ein paar Straßen weiter Bundestagswahlkampf macht. Sie sagt es der taz, nachdem die Zeitung sie auf den Vorfall angesprochen hat. Das ist weder Reue noch Bekenntnis: Das liegt zwischen gestehen und eine alte Überzeugung aussprechen.

Es muß ja alles weitergehen. Man kann sich doch nicht ewig grämen. Bei Renate Tepper klingt das so: »Ich will den Kopf nicht in den Sand stecken!« Viel lieber möchte sie für »demokratische Rechte« kämpfen. Einem alten Genossen geht das alles viel zu weit. Man solle hier nicht so viel über Schuld reden — obwohl mehr als das Wort allein noch nicht gefallen war. Nicht so viel über die Stasi — über die noch gar keiner geredet hatte —, nicht so viel über die Ungarn-Flüchtlinge, die »sich am Sozialismus keinen Verdienst erworben haben«. Dann kommt es knüppeldick: Die Mauer mußte gebaut werden, die Stasi hat das Volkseigentum geschützt, und nun werden wir vom Kapital alle plattgemacht. »In dieser Hinsicht bin auch ich ein Opfer!« spricht der Stalinist. Frau Tepper ist »nicht einverstanden« damit. Eine jüngere Genossin hat sich dagegen »über das erschreckt, was hier gerade gesagt worden ist«.

Die Dinge werden kaum beim Namen genannt, die Diskutanten schleichen wie die Katze um den heißen Brei. Statt dessen bestes Kaderdeutsch: Journalisten muß man zusammenhalten, Künstler zusammenkriegen. Radiosender wie DT 64 soll man ausnutzen, weil die eine günstige Meinung haben, formuliert ein Sympathisant der Partei. Im breiten Bündnis mit Kreuzberger Frauengruppen kommt man an die Massen ran träumt eine Genossin. Ansonsten soll man den Mut nicht sinken lassen, sondern für die Zukunft arbeiten. Wenn's sein muß, auch mal mit der SPD oder den Gewerkschaften. Daß die aber nichts mit der PDS zu tun haben wollen, wird am Antonplatz gar nicht wahrgenommen: Eine Mischung aus alten Omnipotenzvorstellungen und neuerlicher Verdrängung.

Eine einzige nur sitzt im Raum, die sich erkennbar Mühe gibt, zu begreifen. Der real existierende Sozialismus sei weltweit zusammengebrochen, die bürgerlichen Demokratien hätten sich dagegen bewährt, ruft die etwa 60jährige in den Saal. Diese Tatsache »ist wahnsinnig schwierig«, fügt sie mit lauter, fast verzweifelter Stimme hinzu. Genauso »wahnsinnig schwierig« auch dies: »Die Zahl der Opfer des von den Faschisten begonnenen Weltkrieges und die der Opfer des Stalinismus — das ist zahlenmäßig patt!« Da ist die Versammlung für Sekunden schachmatt. Doch es muß ja weitergehen. Außerdem erneuert sich die Partei. Erneuern: Instand setzen, ausbessern, wiederholen meint Wahrigs Deutsches Wörterbuch dazu. Im Jugendclub wird vor allem wiederholt.

Sowohl Renate Tepper als auch Wolfgang Thierse waren vom Anruf der taz in Sachen Denunziation nicht begeistert. Tepper schlug der taz vor, mit der Veröffentlichung doch bitte bis zum 3. Dezember zu warten. Thierse wollte nicht in den Verdacht kommen, mit dem Fall »Wahlkampf zu machen«. Für ihn ist das »eine alltägliche Denunziationsgeschichte der alten DDR«.

»Sie brauchen doch bestimmt mein Einverständnis, wenn Sie das drucken«, meinte die Frau, die im Roten Rathaus für demokratische Rechte kämpfen will, nach dem Interview. Dann verließ sie den Jugendclub am Antonplatz und starrte an der Straßenbahnhaltestelle traurig das Blaue im Himmel an. Claus Christian Malzahn