Fuhr ergriffen nach Hause

■ Hindemiths „Mathis der Maler“ an der Deutschen Oper Berlin

In wildem Lauf rennen die Dämonen an gegen den sicheren Tritt des Chorals. Der Erbfeind windet sich chromatisch, der heilige Antonius panzert sich dagegen mit Diatonik. Bis endlich ein archaisches Alleluja, posaunengesättigt und über jeden Zweifel erhaben, Frieden in alle Seelen senkt. Auch hat der Komponist in didaktischer Rücksicht auf die Hörer — weil nämlich seines Erachtens das menschliche Ohr höchstens drei Stimmen auseinanderzuhalten vermag — den Orchestersatz selbst in den wüstesten polyphonen Wirrnissen immer schön klar und linear gehalten. Das kommt an, das reißt mit.

„Dabei“, so hieß es im November in der Eröffnungsrede zum Hindemith-Symposion auf Schloß Lüntenbeck bei Wuppertal, „dabei klingt Hindemiths Musik so, daß er eigentlich Ehrenpräsident des DDR-Komponistenverbandes hätte sein können.“ Zugegeben, diese Rede ist nicht mehr ganz neu. Sie wurde vor zehn Jahren gehalten, im November 1980, vom damals schon Ex-DDR- Komponisten Tilo Medek — und das im übrigen durchaus respektvoll. Heute freilich weiß jeder es besser, und alles liest sich anders. Einerseits hat sich der Komponistenverband der DDR längst aufgelöst und selbstkritisch neu begründet, andererseits pflegt man über den Fall Hindemith schon lange nicht mehr so frech und öffentlich nachzudenken.

Immerhin wurde jetzt sein Stück Mathis der Maler von der Deutschen Oper Berlin neu herausgebracht und aufs erstaunlichste aktualisiert: Das durch und durch teutsche Weltanschauungswerk, das doch im Jahre 1934 die NS-Kulturgemeinde ums Haar in zwei Lager gespalten hätte und Wilhelm Furtwängler zu den Worten bewog, dieser Hindemith sei „in seiner schlicht-handwerklichen Gediegenheit“ doch „ein ausgesprochen deutscher Typus“ — diese end- und bodenlose, schwermütig zähflüssige Ideenoper wurde kurzerhand in ein packendes Drama verwandelt. Jiri Kout (als Dirigent) brachte mit schnellen Tempi und harten Konturen romantischen Schwung in die Partitur und ein glänzend gestimmtes Ensemble auf Trab, Peter Sykora (als Ausstatter) fegte die Bühne frei, und Götz Friedrich (als Regisseur) ließ gründlich abspecken: Mit zahlreichen gezielten Strichen machte er aus dem ideologischen Stück lebendiges Musiktheater.

Der Generalintendant, neuerdings vielfach angefeindet, hat ja selbst in jungen Jahren einmal bei Felsenstein gelernt, wie lustvoll und lehrreich Oper unter Umständen sein kann. Die Umstände sind wieder soweit: es geht um Geschichte. Die, wie der Besetzungszettel lakonisch bemerkt, „in Deutschland“ spielt — und zwar, in Abweichung von Hindemiths Libretto, „damals und jüngst“. Mathis, der Maler, hat sich nämlich wie Hindemith, der Komponist, oder auch wie Christa Wolf der Gewissensfrage zu stellen, ob und wieweit sich ein Künstler einlassen muß auf das Geschäft der Politik: Was ihm eine Realität soll, die widerwärtig und ekelhaft ist und dabei doch bestimmend für die hohen Ideale seines Schaffens.

Mathis Gothart Nithart — das war Matthias Grünewald: der um 1520 in den Diensten des Kardinals Albrecht von Brandenburg Heiligenbilder malte, der die Schriften Luthers las und sich den Kämpfen der aufständischen Bauern anschloß, der allen Besitz und alle Ideale verlor und am Ende starb an der Pest. Hindemiths Oper unterwirft den Maler im sechsten Bild einer peinlichen Prozedur: er wird heimgesucht und geläutert von den schrecklichsten Visionen, ex cathedra predigen ihm die Kriegskunst, das Geld, die Wollust, worauf es nicht ankommen darf — auf die irdischen Dinge nämlich. Er bekehrt sich also zur Kunst, und dann, wie gesagt, erklingt das Alleluja.

Die Inszenierung der Deutschen Oper hat diese Szene ersetzt durch den dritten Satz der Mathis-Sinfonie: Da dringen von allen Seiten, nach und nach ausgeleuchtet, riesige Bildtafeln auf die Bühne ein mit gemalten Details aus dem Isenheimer Altar. Es sind, man hört es gleich, Details aus seinem zuvor gezeigten Leben: in der blutigen Spur der Dämonen hallt das Schlachtgeschrei nach; die heilige Jungfrau blickt milde in Ultramarinblau wie seine ferne Geliebte Ursula; die gefalteten Hände könnten die der Bauerntochter, das gefolterte Antlitz des Gekreuzigten könnte sein eigenes sein. Und wenn die Musik ausrauscht und das Licht den Sänger auf der Bühne wieder erfaßt, geht sein letztes Bekenntnis echt zu Herzen.

Gewiß ist dies eine drastische Lösung, eine kitschig pompöse dazu — aber die Inszenierung bringt so das Stück wieder über die Rampe: mit allen Implikationen und doch ohne die Künstler Hindemith, Mathis, Wolf und so weiter zu denunzieren. Im übrigen inszeniert Friedrich spektakuläre Massenszenen, aber er geht auch liebevoll ins Detail: Das „bunte Bändchen“ — ein Liebespfand, welches das erste mit dem letzten Bild verbindet — trägt die Farben des Regenbogens. Der Bauernführer Schwab klatscht beim ersten Auftreten nebenbei einen Blutfleck auf die weiße Kulisse, der bis zum Ende dort kleben bleibt. Der Kardinal läßt sich, nachdem er widerstrebend die Bücherverbrennung angeordnet hat, ausgerechnet vor dieser Leinwand nieder und ein Glas Wein bringen: Er wäscht seine Hände in Unschuld und trinkt dazu Blut.

Wem das alles nicht werktreu genug war, der möge bedenken: Wahrhafte Werktreue hätte nicht nur die komplette Mathis-Partitur, sie hätte auch die vollständigen Dialoge und Regieanweisungen der Oper mitsamt der tümelnden Gesinnung ihrer Entstehungszeit mit auf die Bühne bringen müssen. Außerdem ist die Mathis-Sinfonie ja von Hindemith durchaus zu dem Zwecke komponiert worden, sein Werk dem Publikum näherzubringen — und er hat selbst mitunter, wie Medek vor zehn Jahren in seiner Rede erinnerte, zu kitschig-pompösen Lösungen in der Volksmusikerziehung geneigt: Bei einem Kurs an der Abendmusikschule in Neukölln zeigte Hindemith „riesenhafte Kartons von Grünewalds Isenheimer Altar und erzählte den Leuten auf seine einfache, herzliche Art, wie diese wunderbaren Gemälde auf ihn gewirkt hätten [...] Dann spielte er ihnen auf Schallplatten die Symphonie Mathis der Maler vor.“ Mit dem gleichen schönen Erfolg, den auch Götz Friedrich erzielte: „Die Klasse fuhr ergriffen nach Hause.“ Elisabeth Eleonore Bauer