Tradition und Verbrechen

Den Töchtern afrikanischer Einwanderer droht auch in Frankreich die Klitorisbeschneidung/ Gegen diese Praxis treten französische und afrikanische Feministinnen, Kinderschutzvereine und Mutterberatungsstellen auf/ Mittlerweile haben auch die französischen Gerichte ihre Zurückhaltung aufgegeben  ■ Aus Paris Bettina Kaps

In den städtischen Beratungsstellen für Mütter und Kinder stößt man auf eine Wand des Schweigens. „Ohne Genehmigung von oben dürfen wir nichts sagen“, lautet stets die Auskunft. Doch das Pariser Rathaus verweigert die Genehmigung. Daß in Frankreich Mädchen beschnitten werden, darüber soll man offenbar nicht sprechen oder schreiben.

Dennoch kann die Stadt nicht verhindern, daß das heikle Thema ein, zweimal im Jahr in die Schlagzeilen kommt: Immer dann, wenn Einwanderer angeklagt und vor Gericht zitiert werden, weil sie ihrer Tochter die Klitoris abschneiden ließen. Oft sind es die Mütterberatungsstellen, die den Eingriff feststellen und Alarm schlagen.

Die Beschneidung von Mädchen ist ein Problem, das die Immigranten nach Frankreich gebracht haben. Der uralte Brauch ist in Schwarzafrika, Indonesien und Malaysia verbreitet. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation leben weltweit 75 Millionen Frauen, die diese Amputation erleiden mußten. Aufgrund der Bevölkerungsentwicklung in den betroffenen Ländern steigt die Zahl der Opfer. In Frankreich ist dieser Eingriff verboten und kann nur im Verborgenen durchgeführt werden. Daher ist schwer zu sagen, wieviele Afrikanerinnen in Frankreich beschnitten worden sind und wievielen Mädchen der Eingriff droht. Die Schätzungen schwanken zwischen 10.000 und 23.000 verstümmelten Frauen.

Vor allem bei Einwanderern aus Mali hört man immer wieder, daß sie ihre Töchter beschneiden lassen. Der Eingriff wird von Frauen aus der Kaste der Schmiede vorgenommen, und zwar mit einer Rasierklinge oder einem scharfen Küchenmesser. Wenn aus Afrika eine Beschneiderin zum Familienbesuch nach Frankreich kommt, wird sie von Familie zu Familie weitergereicht. Oft wird die Beschneidung auch während eines Aufenthaltes im Herkunftsland durchgeführt.

Abgetrennt wird einer der empfindlichsten Körperteile, nämlich die gesamte Klitoris und manchmal auch ein Teil der Schamlippen. Am Horn von Afrika, im Sudan, in Somalia und Dschibuti — ist eine noch schmerzhaftere Methode üblich: die Infibulation. Dabei wird den Mädchen nach der Beschneidung die Scheide zugenäht und erst vor der Hochzeitsnacht wieder aufgetrennt — nur so gelten sie als „rein“. Indem das Geschlecht auf das Gebären reduziert wird, soll die eheliche Treue der Frau gesichert werden. Die Beschneiderinnen arbeiten ohne Betäubung und Desinfektionsmittel. Nicht selten verbluten Mädchen nach dem Eingriff oder sterben an Infektionen. Weil die vernarbten Stellen hart und unelastisch sind, ist auch das Gebären für beschnittene Frauen schmerzhafter und gefährlicher als für Unbeschnittene.

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Bis heute gibt es Ethnologen, die die Praxis der Afrikaner verteidigen, weil sie einem uralten Brauch entspricht. Einen ersten Hinweis auf die Beschneidung von Frauen gibt ein ägyptisches Schriftdokument aus dem Jahr 163 vor Christus. „Ich glaube, daß den afrikanischen Frauen bereits seit Urzeiten rituelle sexuelle Verstümmelungen aufgezwungen werden, denn selbst die Mumien sind beschnitten, vermutlich sogar Cleopatra“, schrieb die Psychoanalytikerin Marie Bonaparte.

Der kürzlich verstorbene Kindertherapeut Bruno Bettelheim berichtet in seinem 1964 erschienen Buch Les Blessures Symboliques (Die symbolischen Wunden, Frankfurt, 1982) daß viele Anthropologen die Beschneidung der Mädchen wie die der Jungen als einen Ritus erklären, durch den die Heranwachsenden in die Welt der Erwachsenen eingeführt werden. Tatsächlich kann man aber die Beschneidung von Jungen und Mädchen überhaupt nicht vergleichen, da bei den Jungen lediglich die Vorhaut entfernt wird. Im Französischen gibt es daher auch, präziser als im Deutschen, zwei Wörter für die beiden Eingriffe, nämlich „circoncision“ für die Beschneidung von Jungen und „excision“ für die von Mädchen.“

Zudem werden Mädchen heute nicht mehr wie früher im Alter zwischen acht und dreizehn Jahren beschnitten, da sie dadurch häufig lebenslang traumatisiert waren. Statt dessen wird der Eingriff meistens bei Babys in den ersten Lebenswochen vorgenommen. Von einem Initiationsritus kann also heute nicht mehr die Rede sein.

Auch das Argument „Respekt vor der fremden Kultur“ dient immer wieder als Vorwand, um das unangenehme Thema beiseite zu schieben. Dabei wird ignoriert, daß der Brauch gar nicht so fremd ist: Noch vor hundert Jahren wurden auch bei uns, in Mitteleuropa, die Geschlechtsteile von Mädchen oder Frauen amputiert. Es waren bekannte englische und französische Chirurgen, die die Beschneidung empfahlen, um kleine Mädchen vom Masturbieren abzuhalten; Frauen sollte dieser Eingriff von „Hysterie“ heilen.

Die Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Benoite Groult sieht einen anderen Grund dafür, daß die Beschneidung von Frauen toleriert wird: „Niemand weiß es, weil niemand davon spricht. Denn es geht um weibliche Organe, also um etwas ganz Unwichtiges“, schrieb sie 1975 in ihrem Buch Ainsi soit elle (So soll sie sein). „Auch in der Unesco wird schamhaft geschwiegen: Man wird doch in ernsthaften Versammlungen nicht von der Klitoris reden! Ah, wenn diese Völker ihren Frauen den Daumen oder die Nase abschnitten, dann könnte man sich aufregen... Doch dieses kleine Ding, das lediglich der Lust gewidmet ist, das ist anstößig. Und da dieses Organ für den Mann und die Zeugung unnötig ist, kann man es ignorieren oder zerstören.“

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Nachdem jedoch im eigenen Land kleine Mädchen an den Folgen der Beschneidung gestorben waren, konnte man in Frankreich nicht länger wegschauen. Die Gesellschaft fühlte sich verunsichert, wie immer, wenn zwei Kulturen aufeinandertreffen. Darin ähnelt die Auseinandersetzung um die Beschneidung der Tschador-Affäre: Im vergangenen Jahr hatte ein strenggläubiger marokkanischer Vater darauf bestanden, daß seine beiden Töchter verschleiert zur Schule gehen sollten. Der Präzedenzfall spaltete die Nation in zwei Lager: Politiker und Intellektuelle diskutierten wochenlang, ob der Staat die fremde Kultur tolerieren solle oder seine eigenen Werte verteidigen müsse, nämlich die Laizität von Schule und Gesellschaft.

Bei den ersten Prozessen wegen der Beschneidung von Mädchen neigten die Richter zur Toleranz. Sie stuften die Amputation der Klitoris nicht als „Gewalttat gegen Kinder“ ein, ein Delikt, das in Frankreich mit Gefängnisstrafen bis zu zwanzig Jahren geahndet werden kann. Statt dessen sprach die Justiz vorsichtig von „unterlassener Hilfeleistung an einer gefährdeten Person“ oder von einer „Verletzung, die unbeabsichtigt zum Tode geführt hat“, und setzte alle Strafen zur Bewährung aus. Inzwischen konnten sich jedoch französische und afrikanische Frauen, die gegen die Verharmlosung der Beschneidung kämpfen, zunehmend Gehör verschaffen.

Der französische Kinderschutzverein „Enfance et Partage“ engagierte sich zuerst in Afrika selbst, insbesondere in Dschibuti, bevor er in Frankreich aktiv wurde. „Wir müssen erreichen, daß alle Einwanderer, die hier leben, wissen: Unser Gesetz verbietet die Verstümmelung von Kindern“, sagt die Vorsitzende, France Gublin. Um das Problem ins öffentliche Bewußtsein zu heben, tritt „Enfance et Partage“ gemeinsam mit einigen anderen Vereinen als Kläger auf, wenn Beschneidungsfälle bekannt werden.

Insbesondere der Prozeß gegen Dalla Traoré im Oktober 1989 sorgte für Wirbel, denn er führte die ganze Problematik dieses Vorgehens vor Augen. Die 26jährige Frau aus Mali hatte ihre Tochter Assa beschneiden lassen, als diese gerade eine Woche alt war. Das Neugeborene erlitt starken Blutverlust und bekam eine Infektion, doch es überlebte den Eingriff. Das Gericht urteilte: „Beteiligung an einer vorsätzlichen Gewalttat an einem Kind, mit der Folge einer Verstümmelung.“

Dalla, die damals ihre sechste Tochter erwartete, wurde mit drei Jahren Gefängnis auf Bewährung bestraft, weil sie an ihrer Tochter wiederholt hatte, was auch ihre Mutter, ihre Großmutter und ihre Urgroßmutter getan hatten. Die junge Frau konnte weder lesen noch schreiben und verstand kein Französisch. Ein Dolmetscher übersetzte die Vernehmung. Dennoch ist nicht anzunehmen, daß Dalla Trapré begriff, warum sie sich strafbar gemacht hat. Das Gericht statuierte jedoch ein Exempel: Es war das erste Mal, daß jemand wegen einer Beschneidung verurteilt wurde, die nicht zum Tode des Kindes geführt hatte.

France Gublin maßt diesem Urteil große Bedeutung zu: „In den ersten Jahren, als diese Praxis in Frankreich bekannt wurde, galt sie lediglich als fremde Kultur. Daß die Beschneidung von Mädchen hier inzwischen als Verstümmelung betrachtet wird, ist ein ungeheurer Fortschritt und eine Hilfe für die engagierten Frauen vor Ort. Die Gerichtsverfahren sind für uns vor allem eine Gelegenheit, Aufklärungsarbeit zu leisten. Deshalb fordern wir auch nie schwere Strafen.“

Inzwischen will auch die Regierung gegen die Beschneidung vorgehen. In der Ende Mai vorgelegten „Immigrations-Charta“ bezeichnete Premierminister Michel Rocard die Beschneidung als „Verletzung der öffentlichen Ordnung“, die zu einer Ausweisung führen kann.

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Die Malerin Amina Sedibé lebt in Montreuil. Der Vorort im Osten von Paris wird häufig als „zweitgrößte Stadt Malis“ bezeichnet. Anders als Dalla Traoré ist Amina Sedibé gut in Frankreich integriert. Sie engagiert sich in der „Union der malischen Arbeiter in Frankreich“, die sich für die Rechte der Immigranten einsetzt und Neuankömmlingen das französische Rechtssystem erklärt. Amina Sedibé kennt jedoch unter ihren Landsleuten viele, vor allem Frauen, die genauso abgeschottet von der französischen Gesellschaft leben wie Dalla Traoré. „Sie fühlen sich fremd. Dadurch gewinnt die Tradition zusätzliche Bedeutung, denn sie stellt eine Verbindung zur Heimat dar.“

Gerichtsverfahren hält Amina Sedibé nicht für ein geeignetes Mittel, um die Beschneidung von Mädchen zu verhindern: „Dadurch zieht der Westen wieder eine Trennungslinie zwischen ,zivilisierten‘ und ,wilden‘ Menschen. Man sollte einen Brauch stets im Zusammenhang mit der Kultur der jeweiligen Person beurteilen. Hier im Westen gibt es auch Verhaltensweisen, die wir Afrikaner skandalös finden, vor allem die Abschiebung der alten Menschen. In Afrika wäre das ein Verbrechen.“ Amina Sedibé versucht statt dessen, die Afrikanerinnen darüber aufzuklären, welchen Gefahren sie ihre Töchter durch die Beschneidung aussetzen.

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Nicht nur von Feministinnen wie Benoîte Groult wird die Beschneidung häufig als Repressionsmittel einer von Männern dominierten Gesellschaft beschrieben. Auch Thomas Sankara, der inzwischen ermordete Ex-Präsident von Burkina Faso, bezeichnete den alten Brauch 1986 als modernen Keuschheitsgürtel und erklärte: „Die Beschneidung ist ein Mittel, um die Frau zu erniedrigen und ihr zu verstehen zu geben, daß sie weniger wert sei als der Mann.“

Erstaunlicherweise scheinen jedoch heute gerade die Mütter und Großmütter stärker an diesem Brauch festzuhalten, als die Männer der betreffenden Familien. Dies ist jedenfalls der Eindruck der Mütterberatungsstellen. France Gublin von „Enfance et Partage“ kennt die Beweggründe der Mütter, die ihre Töchter beschneiden lassen: „Frauen, die selbst verstümmelt wurden, sind überzeugt, daß ihre Töchter nicht heiraten können, wenn sie nicht auch verstümmelt werden. Die Heirat wird dabei als eine Art Tauschhandel betrachtet. Hinzu kommt, daß es natürlich in jeder Gesellschaft ein schweres Hindernis ist, nicht wie die anderen zu sein. Diese Mütter sind überzeugt, ihre Töchter hätten ein Handicap, wenn sie nicht beschnitten wurden.“ Der Kinderschutzverein versuche daher, den Müttern klar zu machen: „Wenn die Mädchen zur Schule gehen und eine Ausbildung erhalten, werden sie einen Ehemann finden, ganz unabhängig davon, ob sie verstümmelt sind oder nicht. Aber diese Idee muß erst einmal in die Mentalität eindringen.“

Amina Sedibé kennt mehrere malische Väter, die ihren Frauen ausdrücklich verboten haben, die Töchter beschneiden zu lassen. Sie ist überzeugt, daß immer mehr Afrikaner die alte Tradition in Frage stellen und aufgeben. Als Beweis dafür nennt sie ihre eigene Mutter. Zusammen mit ihren beiden Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, hat Amina die alte Frau im Sommer in Bamako besucht. „Wir haben über die Beschneidung gesprochen: Meine Mutter, die einer anderen Generation angehört, will es nicht. Ihre Enkelin soll nicht beschnitten werden. Früher war sie ganz anderer Ansicht. Doch jetzt, wo sie über die schlimmen Folgen Bescheid weiß, sagt sie: ,Es wird nicht gemacht.‘“

Entscheidend für diesen Einstellungswandel war jedoch, daß Amina Sedibé bei ihrer Mutter ein Mißverständnis ausräumen konnte: Wie viele Afrikaner glaubte sie, der Islam fordere die Beschneidung der Mädchen. Die moslemische Religion verlangt jedoch — genau wie die jüdische — nur die Beschneidung der Jungen. Von Mädchen spricht der Koran in diesem Zusammenhang überhaupt nicht. Daher ist die Beschneidung von Mädchen auch weder im Maghreb üblich, noch im Nahen und Mittleren Osten.

Dieses Wissen wird inzwischen auch von moslemischen Geistlichen in Afrika weitergegeben. Der Feldzug gegen die Beschneidung von Mädchen läuft also, nicht nur in Frankreich, sondern auch in Afrika. France Gublin vom Kinderschutzverein „Enfance et Partage“ hofft, daß der alte Brauch in zehn bis zwanzig Jahren ausgestorben sein wird.