Die Strickjacke als Waffe

Werbespots der Parteien zu den Bundestagswahlen: Die „Rama-Familie“ als ästhetisches Ideal  ■ Aus Frankfurt Reinhard Mohr

„Hände weg von Markus Wolf! Freiheit für Pohl und Langnitschke! Deutschland muß christlich bleiben! Entscheiden Sie sich für das produktive Dreieck! Organisiert Massenstreiks! Bildet Arbeiterregierungen! Für internationale Planwirtschaft!“

Wer in diesen Tagen und Wochen seine Fernsehpflicht erfüllt, kommt in den Genuß der ganzen Vielfalt politischer Überzeugungen, die den Kern der pluralistischen Demokratie bilden. Die radikale Selbstdarstellung der vom Bundeswahlleiter zugelassenen Parteien im Fernsehen kennt nur eine Grenze: das Strafgesetzbuch und 150 Sekunden. Innerhalb dieses — kostenlosen — Rahmens darf sich der Wahnsinn hemmungslos austoben, der zur öffentlichen Willensbildung gehört wie Thomas Gottschalk zum BigMäc. So überrascht etwa die Spartakistische Arbeiterpartei Deutschlands/Sektion der internationalen kommunistischen Liga, Vierte Internationalisten (SPAD) unmittelbar nach Tagesschau und Wetterbericht mit der Meinung, Gorbatschow und PDS hätten „die DDR an die Bourgeoisie von Auschwitz verkauft“, und Gysi liefere nun „seine Partei hinterher“. Keine Überraschung innerhalb des Zweieinhalb-Minuten Spots ist es dann allerdings, daß eine der drei TrotzkistInnen anschließend die Öffentlichkeit darüber informiert, die SPAD werde die Sowjetunion gegen die „kapitalistische Konterrevolution“ verteidigen. Gruß nach Leningrad. Die Christliche Mitte hat andere Sorgen. „Tod oder Leben?“, fragt sie den Zuschauer und die Zuschauerin in der ersten Reihe, und ohne eine spontane Reaktion abzuwarten, antwortet sie gleich selbst: „Wählen Sie das Leben. Wählen Sie die Christliche Mitte!“

Gegenüber dem Exhibitionismus der Splittergruppen präsentieren sich die im Bundestag vertretenen Parteien wie die biederen Verwalter der Vernunft, denen gegen den offenen Wahnsinn nicht viel mehr einfällt als der Wahn des Mittelmaßes. Nach dem Ende der großen ideologischen Inszenierungen ist die ästhetische Inszenierung des Markenprofils zum wichtigsten Faktor geworden. Wenn alle Demokratie und Europa, Marktwirtschaft und Umweltschutz propagieren, entscheidet das Marketing- Konzept.

Politische Werbung freilich, so bemerkt Coordt von Mannstein, Helmut Kohls professioneller Agenturberater, „befindet sich in einem Medienumfeld, in dem auf Titelseiten, in Kommentaren, Reportagen unverblümt über das politische Produkt berichtet wird“, was von Knorr und Maggi, VW und Opel nicht in demselben Maße gesagt werden kann. Solange also eine von purer PR und Werbung unterscheidbare Öffentlichkeit besteht, ist das Spannungsverhältnis zwischen Partei und Werbung prekär. Das Kritik- und Erinnerungsvermögen einer halbwegs demokratischen Gesellschaft verhindert eine reine Imagekampagne, die perfekte Designer-Partei für den politischen Windkanal. Gleichwohl bemühen sich die Parteiverkäufer, Disparitäten und demokratische Turbulenzen in ihren Weichbildern verschwinden zu lassen. Zwei Paradigmen haben sich dabei in den aktuellen TV-Wahlspots durchgesetzt: Das „Große“ und das „Kleine“, die „Geschichte“ und das Kind im Wähler, nicht selten als kombinierter Matrosenanzug.

Die SPD, die in regelmäßigen Abständen versucht, Anschluß an den Zeitgeist zu finden, hat den Wettlauf um die Infantilisierung der Politik für sich entschieden. Ihre jämmerliche Imitation von Versatzstücken der ARD-Sendung Dingsda, die Kindern mit Zöpfen und Milchzahnlücken die Beschreibung von Begriffen und Personen — hier: Oskar — anvertraut, hatte bei weitem nicht den Charme und Witz eines gut gemachten Kinderprogramms für Erwachsene. Der Versuch einer ästhetischen „Modernisierung“ endet als Rohrkrepierer auf dem Niveau eines Ortsvereinsvideos über eine Kindertagesstätte. Oskar selbst wirkt in anderen Wahlspots wie ein Oberprimaner, der brav seine auswendig gelernten Wahrheiten aufsagt — ob im rasenden Zug (!) mit Fußballer- Weisheiten über die Wende in der zweiten Halbzeit oder vor grünen Zweigen in der Nähe einer Kirche.

Es ist der uneinholbare Platzvorteil der CDU, daß ihr Helmut Kohl sich daselbst längst eingerichtet hat und die Strickjacke nicht nur am häuslichen Herd in Oggersheim, sondern auch bei Gorbi im Kaukasus zur Waffe im Kampf um den ewigen Frieden macht. Während die SPD- Spots die ganze Anstrengung ausstrahlen, wenigstens selbst noch an den Hauch einer Chance zu glauben, blättert die technisch avanciertere und dramaturgisch stimmigere CDU-Werbung einfach im „Buch der deutschen Geschichte“. Was steht darin? Kohl und nochmals Kohl. Kohl beim Kanzlereid 1982, Kohl mit Mitterrand, Kohl mit Bush, Kohl mit Gorbatschow, Kohl als Kanzler der Einheit, Beender des Kalten Krieges, Friedensstifer, Abrüster, Umweltschützer und erster Helfer der in Not geratenen Sowjetunion.

Das ist die Hausmannskost eines historischen Erfolgs, dessen Ästhetik nebenbei zeigt, wie die elektronischen Medien jede, auch die nationale Mythologie durch ihren seriellen Charakter kleinkriegen. Die Bilder vom Brandenburger Tor im Silvesterfeuerwerk wirken wie die Wiederholung einer Folge der Lindenstraße. Nicht Leni Riefenstahl, sondern die „Rama-Familie“ am sonnenumfluteten Frühstückstisch bestimmt das ästhetische Ideal als Träger der politischen Botschaft: „Aufschwung für jeden - Rama für alle!“.

Die Grünen verlassen sich wie gewohnt darauf, daß ihre Selbstdarstellung nicht zur Kenntnis genommen wird. Anders ist der erbärmliche TV-Spot nicht zu erklären, gegen den die Sesamstraße und die Sendung mit der Maus geradezu Beckettsches Format besitzen. In quälender, Tango-untermalter Eintönigkeit macht dieses fluchwürdige Machwerk nur deutlich, daß der grüne Löffel solange von Hand zu Hand geht, bis ihn der letzte abgibt. Die Zeichentrick- Dramaturgie entspricht so recht dem Strickpullover-Fundamentalismus der grünen Basis, die trotz aller Inhaltshuberei gerne auf profilierte Positionen verzichtet, wenn sie sich nur bequem zwischen Gut und Böse entscheiden kann.

Einen Begriff von „politischer Kommunikation“ vermitteln allein die Werbespots von FDP und PDS. Die SED-Erbengemeinschaft rangierte beim Expertentext in Leo's Magazin (ARD) gar an erster Stelle für den „technischen Wert“ ihrer Produktionen, deren formale Rückständigkeit gegenüber kommerzieller TV-Werbung geringer ist als bei der Westkonkurrenz. Nur die aristokratische Inszenierung des Grafen Lambsdorff, der einsam, aber unbeirrbar den liberalen Weg durchs leere Bonner „Wasserwerk“ nimmt, kann es mit der „gerappten“ Schnittfolge der PDS-Sequenzen aufnehmen, die geballte „Lust auf links“ verbreiten soll. „Heute möchte ich mal über die Finanzen sprechen“, redet Gregor Gysi die ZuschauerInnen direkt an und beginnt mit diesem Euphemismus auf ziemlich geniale Weise einen — notgedrungen einseitigen — Fernsehdialog, dessen Ausgang offen ist.

Eine Zukunft ist uns dagegen sicher. Angesichts der Komplexität politischer Zusammenhänge provozieren die „meist ausschließlich emotional entscheidenden Wähler“ (Mannstein) eine „neue politische Werbekultur: Videoclips in Discotheken, Regionalshows auf lokaler Ebene — vom Videomobil bis zum Straßentheater“ und: intensivere Radio- und Fernsehwerbung. Dagegen gibt es nur eines: „Organisiert Massenstreiks!“