Sollen sie doch ihrer Wege gehn

■ Ibsens „Wenn wir Toten erwachen“ in Hamburg

Henrik Ibsen sei „einer der größten Männer der Welt, vor dem die Kritik nur eine schwächliche Figur machen“ könne, schrieb James Joyce 1900 über Ibsens soeben erschienenes neues Drama Wenn wir Toten erwachen. Was ihm am Werk des „nordischen Magiers“ gefiel, waren nicht so sehr die Aktion oder die Charaktere, sondern die „Erfahrung einer großen Wahrheit“, das „Aufwerfen einer großen Frage“ oder „ein großer Konflikt“.

Das Paar in den Korbsesseln auf der leicht ansteigenden dezent grauen Bühne hat zunächst eher Konflikte mittleren Ausmaßes. Der alternde Bildhauer Rubek (gespielt von Will Quadflieg mit Strohhut und Samtjackett) ist von Ruhm und Geld angeödet und trauert der verlorenen Inspiration nach. Seiner jungen Frau mißfällt es offensichtlich, schönes Dekorationsstück seiner erstarrten Welt zu sein.

Wenn der ziegenbärtige Gutsbesitzer Ulfheim seine besten Freunde, sieben (echte) Jagdhunde, über die Bühne defilieren läßt und seinem Flachmann zuspricht, findet sie ihn ebenso eklig wie faszinierend, und wir sind geneigt, beiden für ihre Bergwanderung viel Spaß zu wünschen. Für den alten Bildhauer wäre gesorgt, denn der erkennt in der über die Bühne gleitenden weißverhüllten Dame sein früheres Modell Irene wieder; bis sie verschwand, war sie seine Muse und Quell seines künstlerischen Genies.

Obwohl ihr das offenbar kein Glück brachte, ergibt sich auch hier eine Bergwanderung. Doch während Rubeks Ehefrau entdeckt, daß ihr Jagdhunde und Lodenzeug besser gefallen als Kunstwerke, spazieren Künstler und Muse in den Tod durch Bergunfall. Die Schlüsselfrage stellt Maja Rubek ziemlich genau in der Mitte des Stücks — warum in aller Welt sie nicht einfach alle ihrer Wege gehen könnten.

Sicher ist das nicht die große Frage, die James Joyce im Sinn hatte. Aber gerade sie hakt sich hartnäckig ins Gedächtnis und macht alle Anstrengungen des polnischen Regisseurs Erwin Axer, den Trennungskonflikten Gewicht und tiefere Bedeutung aufzuladen, heimtückisch zunichte. Zwar gibt Hildegard Schmahl als weiße Dame sich große Mühe, das Damenopfer, das vor der Kunst liegt, tragisch zu gestalten — ihr weißer Schal umschließt sie wie eine Zwangsjacke, und wir ahnen schon, das geht nicht gut aus; Rubek, klagt sie, habe ihre Seele im Marmorblock begraben.

Wenn sich im Bühnenboden, der an dünne Schichten grauen Schiefers erinnert, im zweiten Akt ein Spalt auftut, setzen die Akteure hinüber, als sei es ein Riß in der Welt. Doch wenn Irene ihre somnambulen Racheschwüre unterbricht und sich hineinhockt, sehen wir: der Abgrund ist keiner — und glauben auch den Bergunfall nicht mehr.

Was machte die Inszenierung dieser wechselseitig aufbrechenden alten und neuen Leidenschaften so harmlos? Sicher nicht die Dimension der Konflikte. Das Erwachen lebender Toter wäre wichtig genug, und die Erkenntnis, daß der Preis dafür, nie gelebt zu haben, hoch ist, um so mehr. Daß Frauen ihre Lebendigkeit scheinbar genialen Männern opfern, ist zwar nicht neu, aber immer noch wichtig, und die Folgen daraus für Mann, Frau und Kunstwerk könnten durchaus noch als „großer Konflikt“ unserer Zeit gelten. Doch Axers buchstabengetreues Bemühen, diese Größe zu demonstrieren, trieb die banale Seite hervor.

Bis in die Farbauswahl: daß das Leben immer bunt ist und das Absterbende grau, ist eben nicht erkenntnisträchtig, sondern langweilig. Will Quadfliegs Spiel verlieh dem Stück eine unbeabsichtigt ironische Note: Sein Bildhauer war weder ein Toter, der zum Leben erwacht, noch der Künstler auf der Jagd nach dem Absoluten, sondern ein alter Mann, der den Ausbrüchen der beiden Damen wenig entgegensetzt, weil er wenig zu bieten hat.

Thomas Mann reihte Wenn wir Toten erwachen ein unter die „celesten Greisenwerke großer Ehrgeiziger in ihrer majestätisch-sklerotischen Müdigkeit“, und sicher hat James Joyce Recht, wenn er Theaterkritik bei so viel Größe als „überflüssige Zutat“ abkanzelte. Bei soviel Einigkeit großer Männer bleibt mir — angesichts der Müdigkeit des Publikums — nur die höchst banale und rein rhetorische Frage: „Hätten Sie 's nicht ein bißchen kleiner?“ Lore Kleinert

„Wenn wir Toten erwachen“ von Henrik Ibsen. Regie: Erwin Axer. Bühne: Ewa Starowieyska. Mit Will Quadflieg, Hildegard Schmahl, Charlotte Schwab, Gerhard Garbers. Thalia Theater Hamburg. Nächste Aufführungen: 29. 11., 1., 7., 8. 12.