„Damit nicht das zusammenwächst, was zusammengehört“

Rassismus und die Ökonomie der Gesundheit als roter Faden der deutschen Expansion in Vergangenheit und Gegenwart? Eine Fachtagung in Hamburg  ■ Aus Hamburg Dietmar Bartz

Da war die Versammlung denn doch elektrisiert. Den „biologistischen Tendenzen im real existierenden Sozialismus“ war Susanne Hahn von der Uni Leipzig nachgegangen. „Gesundheit ist vor allem gesellschaftlicher Reichtum“, zitierte sie eine DDR-Behauptung von 1981 und eine sowjetische Parole von 1961, nach der im sich entwickelnden Sozialismus nicht nur die klassenlose, sondern auch die krankenlose Gesellschaft entstehe. Bei der Ökonomisierung der Gesundheitspolitik, in der BRD längst eine anerkannte Tatsache, fanden auch in der DDR Kranke, Alte oder Behinderte theoretisch keinen Platz mehr in der Gesellschaft. In aller Brutalität zeigte sich diese Ausgrenzung in der Parole von der „allseits entwickelten Persönlichkeit“ und der moralischen Abwertung von „Ungesunden“.

Hahn forderte auch, vor dem Hintergrund solchen Denkens die hohe Selbstmordrate alter Menschen in der DDR zu untersuchen. Es war auch nur noch ein kleiner Schritt bis zu einer offiziellen Behauptung von 1986, mit behinderten Kindern sei keine Selbstverwirklichung möglich. Hahn machte geltend, daß in Fachkreisen der DDR eine kritische Debatte um die Konsequenzen einer solchen Auffassung geführt wurde. Sie stellte bei sozialistischen Ärzten eine seit den 30er Jahren durchgehende Kontinuität fest, mit medizinischen Mitteln die Gesellschaft „verbessern“ zu wollen — mit unverhüllt rassenhygienischer Begründung.

Kontinuität im weitesten Sinne war das Thema der internationalen Tagung „Europastrategien des deutschen Imperialismus in Geschichte und Gegenwart“, die am Wochenende von der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts ausgerichtet wurde. War ursprünglich eine zeitgeschichtliche Veranstaltung geplant, die über die Zäsur des Jahres 1945 nicht hinausgehen sollte, kam nun der politisch- wirtschaftliche Anschluß der DDR dazwischen. Der erweiterte zum einen das Thema um die Frage, inwieweit historische Kontinuitäten durch die Wirtschafts- und Währungsunion und den Einheitsvertrag „reaktiviert“ wurden. Zum anderen ermöglichte er die Teilnahme von WissenschaftlerInnen aus der Ex-DDR, die von eigenen Forschungsergebnissen berichteten — soweit sie ihre Teilnahme nicht wieder abgesagt hatten, um ihre berufliche Arbeit in Zukunft nicht zu gefährden. Denn auch die WirtschaftshistorikerInnen in den fünf neuen Bundesländern zittern vor den „Evaluierungskommissaren“ aus der BRD, die prüfen sollen, wer in den fünf neuen Bundesländern weiterforschen darf und wer nicht.

Ob nun die aktuellen Strategien des deutschen Imperialismus gegenüber Osteuropa auf historischen Mustern beruhen oder nicht, konnte auf der Tagung nicht eindeutig beantwortet werden — dazu sind die Entwicklungen dort zu einem guten Teil noch viel zu unübersichtlich. Kontrovers wurde allerdings über den Stellenwert des Rassismus in Deutschland und Europa diskutiert.

Der war einerseits ideologisch konstitutiv für die mörderischen Expansionen der Nazi-Zeit. Andererseits ist er heute in ganz Europa und blitzschnell besonders in der Ex- DDR wieder virulent geworden. Wenn jetzt eine neue deutsche Ost- Expansion möglich werde, dann wieder mit Hilfe des Rassismus? Sergio Bologna, Referent aus Italien, bestritt, daß unter diesem Blickpunkt die deutsche Gesellschaft die größte Gefahr in Europa darstelle — auch die linken Deutschen sollten sich nicht immer für das Zentrum der Welt halten. In Frankreich und Italien, wo starke kommunistische Parteien mit ausgeprägtem Neoliberalismus zu Trägern der Modernisierung und damit des Sozialimperialismus geworden seien, sei der Rassismus viel weiter fortgeschritten; so könne im Gegenteil die BRD eher von Süden her Opfer dieser Bewegungen sein als ihr Kontrolleur. Der Ansicht, daß die destabilisierenden Elemente in Europa außerhalb der BRD angesiedelt seien, schloß sich zwar auch der Niederländer Kees van der Pijl an. Er erwartet aber, daß die repressiven Instrumente zur Beherrschung der damit verbundenen Umstrukturierungen (wieder) aus Deutschland kommen werden.

Eine verblüffende organisatorische Analogie im weitgespannten Themenspektrum der Veranstaltung präsentierte der (Ost-) Berliner Wissenschaftler Werner Röhr, der die NS-Okkupationspolitik in Polen untersucht hat. „Fatal aktuell“ sei die Arbeit der „Haupt-Treuhandstelle Ost“ (HTO), die gleich ab September 1939 die Bewertung und später die Verteilung der Beute in den annektierten polnischen Gebieten übernommen hatte. Am Beispiel des oberschlesischen Kohle- und Stahlreviers schilderte er die regulierende Wirkung der HTO bei den Rivalitäten zwischen enteigneten Altbesitzern, privaten Montankonzernen von Ruhr und Saar und neuen Staatsfirmen (z.B. die Göring-Werke).

Die auf der Tagung immer wieder behauptete „Sprungbrettfunktion“ der Ex-DDR für Osteuropa und die SU, die, wenn überhaupt, nur für ausgewählte Industriezweige gelten kann, wurde allerdings nicht weiter diskutiert — dafür ist es vielleicht noch zu früh. Weitgehende Einigkeit herrschte jedoch darüber, daß es sich beim Beitritt der DDR zur BRD um eine Annexion im historischen Sinn gehandelt hat, um die Übergabe eines Territoriums durch die eigene Regierung an eine andere.

Dominant war in Hamburg die Befürchtung, der Rassismus könne erneut zur ideologischen Begründung für deutsche Expansionen werden. Susanne Hahn, die den Biologismus in der DDR untersucht hatte, erntete heftigen Beifall für ihre Aufforderung zu weiteren Untersuchungen in Deutschland Ost und West, „damit nicht das zusammenwächst, was zusammengehört“.