„Streckenstillegungen sind nicht mehr zeitgemäß“

■ Der Pressesprecher der zentralen Streikleitung, Reinhard Sauer, zum Arbeitskampf bei der Deutschen Reichsbahn INTERVIEW

taz: Die Reichsbahn hat doppelt soviel Beschäftigte pro Streckenkilometer wie die Bundesbahn. Die Leistungen liegen dennoch deutlich unter denen der Bundesbahn. Wie soll sich hier ohne Rationalisierungen und Massenentlassungen überhaupt etwas ändern?

Reinhard Sauer: Man kann nicht einfach die Streckenlängen miteinander vergleichen! Man muß wissen, bei der Reichsbahn werden alle Waggons selbst gebaut und der Streckenneubau und die Streckenunterhaltung von den Eisenbahnern durchgeführt. Bei der Bundesbahn werden diese Arbeiten an private Unternehmen vergeben.

Wieviele Reichsbahner arbeiten im Waggon- und Streckenbau?

Von den ingesamt 250.000 Reichsbahnern sind das schätzungsweise 60- bis 80.000.

Diese Bereiche werden privatisiert, das werden Sie nicht verhindern wollen. Was soll mit den Leuten geschehen, die dann nicht mehr gebraucht werden?

Wir fordern eine sozialverträgliche Unterbringung aller Eisenbahner der Reichsbahn!

Kein Mensch sieht ein, daß mit soviel Personal so schlechte Leistungen erbracht werden. Welche Vorstellungen hat die Gewerkschaft für die Rationalisierung der maroden Bahn?

Wir bestreiten nicht, daß die Deutsche Reichsbahn modernisiert werden muß. Aber es ist eine grundlegende Aufgabe der Bundesregierung, sich hier zu betätigen. In kürzester Zeit wurden im letzten Jahr 80 Straßenübergänge zwischen der damaligen DDR und der damaligen Bundesrepublik neu eröffnet und nur eine zusätzliche Eisenbahnstrecke. Die Bundesregierung begeht in ihrer Verkehrspolitik die gleichen Fehler, die sie jahrzehntelang in Westdeutschland begangen hat: Höchst einseitig bevorzugt sie die Straße.

Das Gütertransportaufkommen der Reichsbahn ist erheblich zurückgegangen. Unter anderem deshalb, weil viel weniger Braunkohle gefahren wird. An diesem Rückgang besteht doch ein ökologisches Interesse.

Die Eisenbahn muß tatsächlich in die Lage versetzt werden, auch hochwertige Güter zu fahren. Dafür fehlen aber die ordnungspolitischen Entscheidungen aus Bonn. Im Moment spricht alles dafür, daß der Noch-Verkehrsminister Zimmermann auf die Straße setzt, nicht auf die umweltfreundliche Bahn. Vordringlich aber wäre ein Ausbau des Streckennetzes der Reichsbahn und die Inbetriebnahme neuer Ost-West-Strecken. Die Reichsbahn muß attraktiv werden, mit neuen Fahrzeugen muß ein Taktverkehr angeboten werden. Die Streckenstillegungen, die in der alten Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt wurden, sind bei den heutigen Verkehrsproblemen und dem ökologischen Bewußtsein nicht mehr zeitgemäß.

Im Moment aber ist das Streckennetz der Reichsbahn nicht ausgelastet.

Das stimmt: Auf etwa 7.000 von 14.000 Streckenkilometern erbringt die Reichsbahn 80 Prozent ihrer Leistungen. Hier stehen aber Reservestrecken für den Güterverkehr zur Verfügung, die in der Bundesresrepublik abgerissen wurden, und die heute wieder dringend gebraucht würden.

Die Berliner fühlen sich durch Ihren Streik an die Blockade erinnert.

Wir wollten nicht den Streik. Der Reichsbahnvorstand hat unsere Verhandlungsangebote fünf Tage lang überhaupt nicht beantwortet.

Sind Sie denn bereit, einer gemäßigten und in den sozialen Folgen kontrollierten Entlassungspolitik zuzustimmen?

Entlassungen wird eine Gewerkschaft nie zustimmen...

...aber sie muß es doch in der ehemaligen DDR ständig.

Wir wollen Rationalisierungsschutzabkommen — damit kein Eisenbahner entlassen wird. Wir wollen in dieser Hinsicht die sofortige Übernahme des Tarifvertrages, der bei der Deutschen Bundesbahn gilt. Wir wollen keine Extrawürste, keine Sonderregelungen. Im Tarifvertrag steht, daß ein Eisenbahner, der 15 Jahre in dem Unternehmen beschäftigt und 40 Jahre alt ist, unkündbar ist. Diese Regelung soll für die Reichsbahn gelten.

Können nicht auch Reichsbahner bei der Bundesbahn arbeiten?

Das geht. Es haben sich bereits 500 zumeist junge Leute von der Reichsbahn dort beworben.

Ist die Übernahme der Reichsbahn nicht auch eine Chance, den Beamtenstatus für die Mitarbeiter der Bahn insgesamt in Frage zu stellen?

Der Beamte ist in einer Bittstellerrolle gegenüber dem Staat. Er hat keine Verhandlungsfreiheit. Seine Arbeitsplatzsicherheit ist nur vermeintlich, Beamte sind nicht automatisch unkündbar. Soweit mir aber bekannt ist, gibt es bei der Reichsbahn viele Beschäftigte, die gerne Beamte werden möchten. Interview: Götz Aly