Gib mir Wurst!

■ Jetzt zur Einheit: »Das deutsche Kettensägenmassaker«

Wenn ein Pfund Schweinehack 3,99 DM kostet, was kostet dann ein Kilo Sachsenhack, wie teuer kommt das geräucherte Schulterstück eines gut abgehangenen Brandenburgers, und aus welcher Gegend stammen die schmackhaftesten Schulterstücke (»Ich bin ein Brandenburger mit der Heimatstadt Berlin« — Diepgen in der taz vom 27.11.)? [Autorenhirn gibt's im Angebot? d. säzzer] Diese marktwirtschaftlich hochinteressanten Fragen läßt der ansonsten äußerst fakten- und fäkalienreiche Dokumentarfilm Das deutsche Kettensägenmassaker leider unbeantwortet.

Dafür wird andererseits viel Wert auf die detailgetreue Darstellung des Metzgerhandwerks gelegt. In beeindruckender Weise werden die mit Messern und Eisenstangen absolvierten Abschlachtungstechniken in Szene gesetzt. Eindringliche Aufnahmen vom Zerlegen und Ausnehmen folgen. Dann fast liebevolle Bilder der letzthinnigen Verwurstung. Zärtlich streichelt die Kamera den Fleischwolf — Kinopoesie, die nicht von ungefähr kommt. Regisseur Christoph Schlingensief, der in seiner Jugend hin und wieder selbst Kontakte zum heimatlichen Fleischerfachgeschäft hatte, weiß, was er dreht, und er weiß auch, was oben in den Fleischwolf reinkommt: BRD- willige DDR-BürgerInnen, die im Osten aufbrachen, aber niemals im Westen ankamen. Sie landeten im Mastdarm des großdeutschen Verdauungsprozesses. Und das hat Gründe.

Der an gesellschaftspolitischen Themen stark interessierte Christoph Schlingensief hat sich aufgemacht, diese (Ab)Gründe zu recherchieren. Er ist auf das Elend der deutschen Schlachterinnung gestoßen. Wir wissen zwar alle, daß Fleisch das beste Gemüse ist, aber wer hat schon jemals in einen deutschen Metzgerhaushalt reingeschnuppert? Schlingensief hat es für uns getan. Er hat mit einer sechsköpfigen Fleischerfamilie zusammengelebt und mit ihnen gearbeitet. Die Kamera war immer dabei.

Geschlagen mit maßlosen Besteuerungsgesetzen und von einer gnadenlosen Naturkostindustrie in die Enge getrieben, müssen die sechs ausgebildeten MetzgermeisterInnen (zwei Frauen und vier Männer) zu unkonventionellen, nicht ganz astreinen Methoden greifen, um wenigstens überleben zu können. Da kommt es gerade recht, daß sich am 9. November die Schandgrenze öffnet und Zehntausende rüberkommen, nach denen sowieso kein Schwein pfeift, wenn sie verschütt gehen. Unsere Fallstudienfamilie ergreift die Chance und die Kettensäge. Die leeren Räucherhallen füllen sich wieder. Die Wurstproduktion läuft auf Hochtouren. Es scheint aufwärtszugehen. Doch oft kann das erlegte Fleisch nicht überzeugen. Vierzig Jahre sozialistische Mißwirtschaft sind nicht gerade das, was man sich unter einer erfolgreichen Mast vorstellt. Kein Wunder, daß die ganze Belegschaft permanent hysterisch rumkreischt. Die Metzgerfamilie aus Wut und Enttäuschung, die DDR-BürgerInnen aus Unverständnis und Betroffenheit. So hatte man sich die Marktwirtschaft nicht vorgestellt.

Die als Soziodrama angelegten Alltagsbeobachtungen legen den Wurstfinger auf eine klaffende Wunde, die mitten durch Deutschland geht, und stellen die Frage nach der Zukunft der deutschfleischigen Rasse. Können die marginalisierten Fleischerexistenzen reintegriert werden? Und wieviele müssen noch verhackstückt werden, bevor der Kanzler eingreift? Dokumentarfilmer Schlingensief hat aufrüttelndes, ja brisantes Material geliefert. Sein großes Vorbild — damit verraten wir kein Geheimnis — ist zweifellos Texas Chainsaw Massacre, der Meilenstein des Berufsfilmgenres. Das deutsche Kettensägenmassaker ist ein würdiger Nachfolger. Prima Parallelmontagen, klasse Kamerafahrten, schöne Schnitte, kräftige Kettwürste. Kein Film für zart beweizsäckerte Gemüter. Volker Gunske

»Das deutsche Kettensägenmassaker«, BRD 1990, 63 Min., R.: Christoph Schlingensief, D: Alfred Edel, Dietrich Kuhlbrodt, Karina Fallenstein, Irm Hermann. Ab heute im Babylon (West), Sputnik Südstern, Xenon. Am heutigen Premierentag werden der Regisseur und einige der Darsteller bei allen Vorführungen anwesend sein.