„Gladio“: Warum erst heute?

Enthüllungen im Kreisverkehr/ Befreiung von gefährlichen Dunkelmännern — oder ein neuer Krieg der Geheimdienste?  ■ Werner Raith/Dorothea Hahn

Als „merkwürdig und völlig ungewohnt“, empfindet Giuseppe de Lutiis diesmal das Klima: „Bisher gab es bei Skandalen im Parlament immer Journalisten und Beobachter, die einem erklären konnten, wer hinter der Sache steckt, wer Nutzen daraus zieht, und wie die Sache am Ende ausgehen wird. Diesmal sind alle unsicher.“

De Lutiis, Verfasser der „Storia de servizi segreti in Italia“ zählt zu den bestinformierten Geheimdienstexperten Europas — doch auch er kann sich keinen Reim auf die „Explosion dieses Skandals vor allem auf europäischem Niveau“ machen — zumal man „ziemlich viel doch schon vorher wußte“ (s. Dokumentation).

Diese Affäre, die den Namen des römischen Kurzschwertes „Gladio“ trägt (Symbol auch des faschistischen Staates unter Mussolini), hat etwas a-tyisches an sich: keiner weiß so recht, ob überhaupt jemand den Skandal wollte; keiner weiß auch, wer eigentlich wem welche Kleckse ans Hemd geheftet hat. Eindeutig ist nur, daß die Enthüllungen irgendwann, irgendwo in Italien in Gang kamen: Ende 1989 fragte der venezianische Staatsanwalt Casson bei Geheimdienst und Regierung an, ob ihnen etwas von einer — bei Verhören genannten — Geheimorganisation bekannt sei, die über Sprengstoffe und Waffen verfüge und in irgendeiner Weise im Regierungsauftrag operiere. Doch die Antwort ließ monatelang auf sich warten — erst im August brummelte Ministerpräsident Andreotti etwas von einer „vom militärischen Geheimdiest SISMI geführten, im Nato-Bereich kollaborierenden“ Struktur. Eilig hatte es das italienische Oberschlitzohr (sechsmal Ministerpräsident, 24 parlamentarische Untersuchungsausschüsse, vor die er mußte) erst, als Mitte Oktober bisher unbekannte Teile des „Verhörs“ auftauchten, dem die Roten Brigaden 1978 den christdemokratischen Parteipräsidenten Aldo Moro unterzogen hatten — und darin war nun von merkwürdigen Guerilla-Einrichtungen die Rede, die jenseits der offiziellen Nato-Strukturen operierten: Am Tag, an dem das Moro-Dokument freigegeben wurde (18. Oktober) übergab auch Andreotti einen zwölfseitigen Report an die Parlamentskommission zur Aufklärung der Bombenattentate und des Terrorismus.

Andreotti der Fuchs

Doch dieses Dossier zog er drei Tage danach wieder zurück — und übergab es die Woche darauf erneut, aber um zwei Seiten gekürzt. Die Rekonstruktion der nun fehlenden Passagen (s. Dokumentation auf der rechten Seite) zeigte, daß vor allem die Teile über Nato-Strukturen zum Opfer gefallen waren — und über die Aufgaben der Einrichtung seit Beendigung des Kalten Krieges (der offiziell zum Aufbau der „Gladio“ genannten Truppe geführt hatte).

Andreotti, der Fuchs, mußte natürlich wissen, daß es nun erst recht zum Skandal kommen würde — und er schien darüber gar nicht unfroh. Er stellte damit einige politische Nebenbuhler ruhig, indem er ihnen — allesamt ehemaligen Ministerpräsidenten — nachwies, daß sie allesamt von der Einrichtung gewußt hatten. Und er hatte, mit der ostentativen Tilgung der „auswärtigen“ Stellen, dem Ausland gezeigt, daß er solidarisch war — aber auch nicht willens, alleine im Regen zu stehen.

Doch es dauerte noch vierzehn Tage, bis das Ausland langsam aufwachte. Auf die ersten taz-Hinweis auf „Gladio“ in der BRD folgte lediglich eine Interpellation des grünen Abgeordneten Manfred Such. Und auch als die Sache Mitte November einfach nicht mehr zu verdrängen, mittlerweile auch der Nato-interne Name „Stay Behind“ in aller Munde war und aus dem Ausland immer dichtere Informationen über die BRD hereinkamen, ließen sich die Medien nur zögerlich auf „Gladio“ ein — als letzter der 'Spiegel‘, der sich noch im Frühjahr gar nicht genug über geheime Ausbildungscamps für DKP-Guerillos aufregen konnte. Nun brachte er, am 18. November, gerade ein paar Archivmaterialien und lahme Anfragen in Bonn, ansonsten haltlose Spekulationen über die SAS-Truppe der Engländer — schrieb ansonsten bei der taz ab (einschließlich der Druckfehler wie die Benennung des griechischen „Gladio“, in der taz fälschlich „Haut des roten Berges“ statt „Bockes“ geschrieben).

Doch die Bundesdeutschen waren da nicht alleine: die Enthüllungen geschahen in einer Art Kreisverkehr, und fast stets trasnational. Die Franzosen dementierten die Existenz der Nato-Einrichtung — Andreotti belegte die Teilnahme eines Franzosen noch an der letzten „Gladio“-Sitzung in Belgien. Nato-Sprecher Jean Marcotte behauptete, sowas gebe es nicht — Italiens Botschafter Paolo Fulci eilte zu Generalsekretär Wörner: tags darauf mußte die Nato ihr Dementi selbst dementieren. Die Deutschen wußten von nichts? Da berichtete der ehemalige „Gladio“-Aufseher General Serravalle von Manövern der Geheimtruppe bei Bad Tölz. Umgekehrt enthüllten die Belgier, daß Italiens, vom damaligen Innenminister Mario Scelba unterstützte Bewegung „Pace e libertà“ von einer Metastase des belgischen „Glaive“ namens „Catena“ unterwandert war und Provokationen bei Gewerkschaftsversammlungen und Kundgebungen organisiert hat. Die Italiener wiederum halfen den sich zierenden spanischen Sozialisten auf die Sprünge und denunzierten „Gladio“-Verquickungen mit Rechtterroristen (s. Interview).

Was hat die sonst im Vernebeln so Großen so offen allen Enthüllungen ausgesetzt? Wollten sie sich vielleicht von selbst von einer schändlich undemokratisch und gegen alle Souveränität aufgebauten, mittlerweile durch tausenderlei Verquickung mit Dunkelmännern und Terroristen aus dem Ruder gelaufenen Seilschaft befreien? Durchaus möglich in dem einen oder anderen Falle (Mitterand versuchte es): doch das wäre wohl auch weniger spektakulär gegangen. Geheimdienstexperte de Lutiis vermutet, daß „die sowieso wieder nur zugeben, was durch Ermittlungen und Enthüllungen wie dem Moro- Verhör sowieso nicht mehr geheimzuhalten war — und daß darunter noch viel mehr steckt“. Und: „Früher haben sie solche Fälle mit Totschweigen gelöst. Diesmal ertränken sie uns mit so vielen und so widersprüchlichen Informationen, daß wir irgendwann resigieren und die Sache am Ende auf sich beruhen lassen.“

Ablenkexperten am Werk

Da könnte was dran sein. Die Konfusion ist jedenfalls schon fast total. In Italien hat sich „Gladio“ offenbar vervielfacht, man kennt mindestens drei solcher Formationen, in Belgien sind es zwei, in Spanien, das erst in den 80er Jahren zur Nato kam und das eigentlich keinen „Gladio“ haben durfte, gab es gleichwohl, ganz offen, solche Strukturen.

Nur in Deutschland sind die Ablenk-Spezialisten derzeit noch unentschieden, ob sie's mit Mauern oder Überschwemmen versuchen sollen. Im Bundestag entsetzt sich die SPD, in gemessenem zeitlichen Abstand von den Grünen, über die Sache zwar als „größten Skandal der Nato-Geschichte“ (so der Interpellator Scheer) — doch dem Antrag des grünen Manfred Such auf eine Sondersitzung des Innenausschußes wollen sie dann wieder nicht folgen. „So kommen wir nie weiter“, trauert Such, „jetzt kann nur noch die Presse helfen.“

Die ist mittlerweile zwar etwas eifriger zugange, kämpft dabei aber lieber gegen Konkurrenz als gegen „Gladio“. Weist das 'Stern‘-Fernsehen auf den „Bund deutscher Jugend“ als mögliche „Gladio“-Frühform hin, so setzt das ZDF nicht etwa Recherchen über andere „Gladio“- nahe Gruppen drauf, sondern munkelt lieber, daß 'Stern‘ einem Desinformanten aufgesessen sein könnte, und daß sowieso alles nicht gar so wild war. Kaum ein Ansatz, die Nicht-Informierung der Parlamentarischen Kontrollkommission zum Skandal zu machen, sie etwa in Form einer Strafanzeige oder (wie in Italien geschehen) mit der Drohung auf Austritt aus dem Geheimdienst-Kontrollausschuß zu ahnden, wenn nicht öffentliche Aufklärung erfolgt; eine Untersuchungskommission wird, wenn, allenfalls nächste Legislaturperiode zustandekommen. Besser könnten die „Einflußagenten“, die nach den Plan „Demagnetize“ (s. Dokumentation) aufgebaut werden konnten, auch nicht arbeiten. „Die Geschichte muß umgeschrieben werden, kein Zweifel“, sagt de Lutiis, „aber ob wir angesichts der Nebelwerfer danach wirklich die Wahrheit über Bombenattetate, Spionageskandale und Putsche haben, ist fraglich.“

De Lutiis hält sowieso auch noch eine andere Hypothese für möglich: „Die Geheimdienste in Ost und West sind seit der Entspannung fast arbeitslos geworden. Und nun werden wir seit einigen Monaten geradezu mit Enthüllungen überschwemmt: in der ehemnaligen DDR wird der Schutz für RAF-Mitglieder offenbar, dafür enthüllt ein weggelaufener CIA-Mann, daß die kriminelle Geheimloge ,Propaganda 2‘ ein von den USA finanziertes Destabilisierungsinstrument war; aus der Tschechoslowakei kommen dutzendweise Faszikel über angebliche westliche Spitzel in Regierungszentralen; dafür stecken östliche Geheime den italienischen Medien, daß der schon im Schmücker-Prozeß aufgefallene und nun unter dem Schutz des italienischen Geheimdienstes lebende berliner Verfassungsschutz-Mitarbeiter Volker Weingraber in die Roten Brigaden infiltriert und möglicherweise in den Mordfall des Journalisten Walter Tobagi verwickelt ist. Möglich, daß „Gladio“ so etwas ist wie die Rache wegen der Aufdeckung der DDR-Guerillacamps und der Deckung von RAF-Mitgliedern durch den Osten.“

Es wäre mal was Neues: ein neuer Geheimdienstkrieg mit Hilfe der Bewältigung der Vergangenheit — der jeweils anderen Seite.