»Am besten wäre, wir gingen nach Afrika!«

■ Die Westler und ihre »Gebietsansprüche« sind für viele Ostbewohner eine existentielle Bedrohung/ Allein für 5.000 der 5.800 Grundstücke in Kleinmachnow liegen »Rückforderungsanträge« vor/ Mieterbund fordert detailliertere Gesetzgebung

Mark Brandenburg. Sie sind der Schrecken der Bürger von Kleinmachnow, Zeuthen, Falkensee: die Wessis als »Besitzer« im deutschen Osten. Mit herrschaftlichen Gesten beanspruchen sie saftige Stücke in der kargen märkischen Landschaft. Allein in Kleinmachnow liegen für 5.000 der insgesamt 5.800 Grundstücke Rückforderungsanträge vor. Rund ein Drittel der 2,7 Millionen Einwohner im Land Brandenburg sind von derlei »Gebietsansprüchen« betroffen. »Im Westen ist die Gier erwacht«, meint Klaus-Jürgen Warnick, Vorsitzender des Brandenburger Mieterbundes. Seit einem halben Jahr beschäftigt er sich ehrenamtlich bis zu 14 Stunden am Tag mit den Ängsten der Eigenheimmieter, denen buchstäblich der Boden unter den Häusern weggezogen werden soll. »Wie nach einem Lottogewinn«, meint Klaus-Jürgen Warnick, »und uns wollen sie am liebsten nach Afrika schicken.« Er ist auch ein Betroffener. Ein Versicherungsangestellter aus Dahlem, der nach eigener Angabe üppig versorgt in einer 130-Quadratmeter-Wohnung lebt, beansprucht den Flecken, der für die Warnicks und drei ihrer Kinder die Existenzgrundlage ist. Bis vor das Bezirksgericht hat »ihr« Eigentümer sie gebracht — ohne Erfolg. Anfang der siebziger Jahre hatten die Warnicks wie viele der Häuslebauer einen Überlassungsvertrag unterschrieben. Für eine nach den Einheitspreisen von 1936 festgelegten Summe schob der DDR-Staat alle Pflichten zur Erhaltung und Bewirtschaftung von Haus, Grund und Boden auf die Mieter ab — allerdings ohne Eintrag in das Grundbuch. Der Einigungsvertrag hat vor diesen mühsam gewachsenen »Lebenswerken« — jeder Ost-Eigenheimbauer erinnert sich noch an die Erschwernisse bei der Beschaffung von Baumaterial — keinen Respekt: Favorisiert wird die Rückgabe der Grundstücke und nicht die finanzielle Entschädigung. Doch wegen Eigenbedarf die Mietverhältnisse zu kündigen und damit die gebeutelten Ostdeutschen endgültig auf die Straße zu setzen, ist bis 1992 unzulässig.

»Es kann nicht sein, daß man unser Leben einfach so wegwischt«, empört sich Monika Thätner aus Kleinmachnow über die Kaugummiparagraphen im Einigungsvertrag. Die Familie ihrer Mutter bekam 1945 als von tschechischem Gebiet Vertriebene das Haus eines Nazioffiziers, der Selbstmord begangen hatte, zugewiesen. Auch ihnen wurde später Haus und Grundstück »überlassen«. Für die Mutter, eine Schneiderin, war der Preis von 30.000 Mark kein Pappenstiel. Monika Thätner mißtraut der Geschichte vom verlorengegangenen Stück Heimat, das hinter dem Stacheldrahtzaun der SED-Diktatur verkam, ohne daß man eingreifen konnte. Manchmal, so Frau Thätner, habe sie an Ausreise gedacht — unter Honecker schon fast ein krimineller Tatbestand. Heute würde sie kriminalisiert, weil sie in der DDR geblieben war und, nach damals geltendem Recht korrekt, ein Haus bezogen hatte, das nicht ihr gehört. Klaus- Jürgen Warnick erinnert sich, wie während der großen Ausreisewelle 1961/62 täglich vier bis fünf Häuser frei wurden. Kleinmachnow war das Absprungbrett nach West-Berlin.

Der Mieterbund versucht nun kostenlose Rechtsberatung zu organisieren. Doch außer einem zinslosen Darlehen und der Finanzierung eines hauptamtlichen Landesvertreters kam vom Deutschen Mieterbund in Köln, dem sich die Brandenburger angeschlossen haben, bisher keine Hilfe. Die Beiträge der rund 4.000 bis 5.000 Mitglieder fließen spärlich. »Ohne Rechtsschutz sind wir den Westlern ausgeliefert«, meint Warnick. Wie sollen sie bei diesen Problemen den Optimismus entfalten, um ein »blühendes Land Brandenburg aufzubauen«? In einem offenen Brief an Ministerpräsident Stolpe warnt Frank Baier von der Mieterbundgruppe in Bergholz- Rehbrücke vor Prozeßlawinen und dem Entstehen eines gesamtdeutschen Konfliktpotentials. Das Recht auf Wohnen in die Landesverfassung und Entschädigung vor Rückübertragung sind die Forderungen, die der Mieterbund, wenn nötig, jeden Dienstag mit einer Demonstration vor dem Landtagsgebäude bekräftigen will. Darüber hinaus solle die Landesregierung auch die Möglichkeit, Ersatzgrundstücke bereitzustellen, prüfen. Theoretisch würden 10 Prozent der 86.000 Hektar umfassenden Truppenübungsplätze ausreichen, um die benötigten über 50.000 Landstreifen zur Verfügung zu stellen. Doch Brandenburgs Umweltminister Matthias Platzeck, der auch über die Raumordnung zu entscheiden hat, warnt vor einer Zersiedlung à la New York. Ersatzflächen, wenn auch nicht im großen Stil, anzubieten, hält er prinzipiell für machbar. Allerdings werde er eine Zerstörung der Kette von Landschaftsschutzgebieten und Wäldern rund um Berlin nicht zulassen.

Ein Überblick über das märkische Land wird mit der vollständigen Kartierung Ende Mai 1991 vorliegen. So lang, meint Warnick, dürfe das Grundstücksproblem nicht ungeklärt bleiben. Es müsse eine politische Entscheidung getroffen werden, um die Rechtsunsicherheit zu beseitigen. Vielleicht wird Ministerpräsident Stolpe wach, wenn auch in seinem Briefkasten eine Gerichtsvorladung landet. Stolpes Domizil befindet sich auch auf einem Westgrundstück. Irina Grabowski