Funkkäse und Spaltenbilder

■ Im »Atelier Zinnober« malen, zeichnen und collagieren Jungen mit geistiger Behinderung

Das »Atelier Zinnober« in der Charlottenburger Schustehrusstraße wurde als Werkstatt für Menschen mit Behinderung vor allem mentaler Art Anfang des Jahres gegründet. Der Künstler Henning Brandis wollte ihnen einen Freiraum öffnen, in dem sie ihre Stärken erfahren und mitteilen können. Noch bis zum Juli '91 wird das Projekt Atelier Zinnober von der »Lebenshilfe« finanziert; darüber hinaus ist die Fortsetzung nicht gesichert.

Einmal in der Woche kommen die Jugendlichen Andreas Spichalla, Martin Binder und Rudolf Xanke nachmittags in das Atelier, um für wenige Stunden jenseits der Maßstäbe, die sie von den Schnellen und Leistungsfähigen trennen, arbeiten zu können. Spichalla, der selbst als Schwerstbehindertenhelfer arbeitet, lebt in Schöneberg. Das erste Thema, das im Atelier Zinnober bearbeitet wurde, hieß »Aufstand der Fledermäuse«. Spichalla, ein Batman-Fan, überraschte Brandis in einer Batman-Kluft. Seine ersten Blätter waren sehr verhalten, dunkel, kompakt, aber aus dem Dunkel kamen bald die Fledermäuse heraus, ausgeschnitten aus Naturkundebüchern. Am Tag meines Besuches schnitt er Uhren und Kugelschreiber aus Werbeprospekten aus, die er erst mit weißer Farbe einfaßte und schließlich immer mehr darunter verschwinden ließ. Seine neue Collage »Schweinefrau und Schnee« ist auf dem von ihm momentan bevorzugten Untergrund Schwarz-Rot- Gold entstanden.

Martin Binder, Schüler, liebt Musik und Geräusche. Er spielte uns eine Kassette mit Tierstimmen vor, die ihm eine Lehrerin aufgenommen hat; in seiner Hochhauswohnung scheucht er mit Hahnenschreien vom Band seine Mutter und seinen Bruder auf. Beeindruckt vom drahtlosen Telefon des Hausmeisters hat er den akustischen Apparat mit schalltragenden Farbwirbeln gemalt und »Funkkäse« getauft.

Mit Rudolf Xanke besuchte Brandis die Carl-Blechen-Ausstellung. Dort begann er, Figuren zu zeichnen, deren Konturen sich auf dem weißen Papier fast bis an den Rand der Blätter ausdehnten. In ihnen ist viel unausgefüllter Platz. Sie umschließen das Mögliche, noch zu Entstehende, das er als dichte Textur übereinandergelagerter Schichten von Bildern, Farben, Formen und Zeichen schnell zu entwickeln lernte. Fan der BVG, benutzt er gerne deren Werbebroschüren und Liniennetze als Untergrund; auf Zeitungsbildern malt er die Frauengesichter zu, läßt nur die Männer stehen. Experimente mit Schuhcreme führten zu schwarz verschlossenen Bildfenstern. In seiner Signatur hängt er dem aufrechtstehenden großen X ein Häkchen an, als würde es mit einem Fähnchen winken.

Henning Brandis interessiert die Zusammenarbeit mit den Behinderten, die in der offiziellen Kultur keine Sprache haben, mehr als die Teilnahme an einem funktionierenden Kunstbetrieb. Zinnober-Kunst entsteht als notwendiges Medium der Identifikation und Selbstdarstellung, ohne auf Markt und Medien zu spekulieren, Innovationen zu zwingen, marktgerechte Handschriften zu entwickeln. Der von Leistung, Schnelligkeit, Anpassungsfähigkeit bestimmte Alltag schließt die Behinderten aus. Weggepackt, eingeschränkt in ihrer Bewegungsfreiheit, beaufsichtigt, wird ihre Energie oft in den sogenannten beschützenden Werkstätten kanalisiert in eine Arbeit, die keine Anerkennung erfährt. Ihnen die Möglichkeit des künstlerischen Ausdrucks zu geben, ist ein doppelter Ansatz: für sie, den inneren Reichtum ihrer Sehweisen artikulieren zu können, für Brandis, ästhetische mit sozialer Praxis zu verbinden. Er versteht sich dabei nicht als Lehrer von ästhetischen Maßstäben und Konventionen, sondern möchte den dreien vielmehr mit den Materialien und der Vermittlung verschiedener Techniken die Möglichkeiten geben, die verschüttete Vielfalt ihrer Vorstellungen, den allein durch die Förderung der notwendigsten Kulturtechniken des Schreibens, Lesens und Rechnens nicht unbedingt zur Artikulation verholfen wird, in visuelle Zeugnisse umzusetzen. Für ihn verwirklicht sich im Atelier Zinnober ein Stück »sozialer Skulptur« seines Lehrers Beuys.

In der Arbeit mit gefundenen und vorgeformten Materialien spiegelt sich die eigene Orientierung in einer vorfabrizierten Welt. Schnipsel aus Werbebroschüren stellen die Dingwelt im Bild zur Verfügung, Zeichnungen aus wissenschaftlichen Magazinen transportieren sonst unerreichbare Perspektiven: Diese Teile sind jeweils Zitate eines Systems des Konsums, der Wirtschaft und der Wissenschaft, aus deren funktionierenden Kreisen die Zinnober-Werker ausgeschlossen sind. Als Bild aber werden sie zum Anlaß ihrer Bearbeitung, Verfremdung, Einbeziehung in das eigene Denken.

Von Andreas, Martin und Rudolf als Künstlern zu reden, wäre ein Euphemismus, der die alltägliche Beschneidung ihrer Selbstbestimmung übersieht. Im Atelier Zinnober geht es nicht um Leistungsbeweise, um ein »so gut wie andere sein«, um Messen an der Normalität. Versteht man Kunst als Grenzüberschreitung von Normen, als Versicherung und Wiederaneignung der versumpften Sinne, als ihren Gebrauch über die funktionale Anpassung hinaus, dann bedarf es für die Wertschätzung des Atelier Zinnober keines Blickes durch eine beschönigende Brille des Mitleids.

Die Wände des kleinen Ateliers werden mit Bildern gepflastert. Da hängen Spichallas Stühle, auf die Einpackpappen von Stühlen gemalte Männchen. Da segelt Xankes Pappschiff, Erinnerung an eine Dampferfahrt, auf Girlanden bunter Lakritzfäden und Collagen aus Eßpapier zu. Auf eine chinesische Zeitung hat er seine Serie erster »Lappen« für die taz-Randspalten geklebt, Einübung in das Zeitungsspaltenformat, die aber in ihrer Farbigkeit viel zu schön für das Schwarzweiß der Zeitung geworden sind. Ein Bild auf der Tür »Rudolf muß sich die Brille putzen« ist von Brandis selbst, der erzählt, daß Rudolf, kommt er aus seiner Werkstatt am Nachmittag ins Atelier, sich erst vom Staub der dort gestanzten Pappen befreien muß. Das Bild klebt auf einer Tüte mit seinem Brillentuch. Katrin Bettina Müller